Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Auf den ersten Blick wirkt der vorliegende Band wie eine einfache, im besten Sinne simple Erzählung, verpackt in einen geschickt erzählten Comic: Nicolas de Crécys sequentielle Stummfilmerzählung ist eine Geschichte des Verrats, der Liebe und der immer wieder neu imaginierten Stadt New York. Am Anfang steht ein brutaler Mord, ein mysteriöser Schütze tötet einen Gangsterboss im kanariengelben Anzug. Das Verbrechen ist eine Verzweiflungstat, die nicht zuletzt auch durch die Schuld des Täters motiviert ist, entfalte­t de Crécy, der schon mehrfach für sein auch literarisch anspruchsvolles Werk ausgezeichnet wurde, doch nach und nach eine verwickelte Betrugsgeschichte um Kunst und Ausbeutung. So weit, so schlicht und auch sehr elegant umgesetzt. Die schrittweise Erweiterung der größeren erzählerischen Zusammenhänge entwickelt der Autor dabei nicht zuletzt anhand seiner Stadtdarstellung, die auch am ästhetischen Prinzip des Noir geschult zu sein scheint. Es ist dies eine bedrohliche Stadtkulisse in Sepiatönen, ein Geflecht aus Treppen, Zimmern und Gängen, die ihr örtliches Gegenstück in einem ländlichen (Schein-)Idyll hat. Doch damit nicht genug, kippt die Handlung doch ins Übernatürliche, setzt sich doch nach dem Verbrechen aus den unterschiedlichsten Teilen – Blut, Rauch, Sperma – ein drollig anmutendes, doch eigentlich durch und durch bedrohliches Wesen zusammen, der titelspendende Prosopopus. Die Bezeichnung, das einzige Wort des Werks, lässt berechtigte Zweifel an der vorschnell unterstellten Simplizität des Erzählten aufkommen. Das sich manifestierende metaphysische Regulativ treibt nicht nur sein blutiges Spiel mit den anderen Figuren, es ist auch ein urbaner Geist, an dem die komplexen Zusammenhänge verdeutlicht werden. Zur Entschlüsselung bietet sich da ein Blick in die von Jorge Luis Borges und Margarita Guerrero erstellte literarische Enzyklopädie imaginärer Wesen, El libro de los seres imaginarios, an. Da finden sich mit den Einträgen des Doppelgängers, der eine ergänzende Kehrseite darstellt, oder des arabischen Dschinns, eines luftigen, tiergleichen Wechselwesens und Gestaltenwandlers, die passenden Vergleichsbeispiele für den bunten, aberwitzig lustig mordenden Prosopopu­s. Doch schon der Name ist Programm, steht hinter dieser Bezeichnung ja das rhetorische Konzept einer Animierung des Unbelebten, die sich ausartikulierende Anwesenheit des Abwesenden, ja des Toten.

Die Darstellung des urbanen Raums als Raster bietet sich, bei formaler Betrachtung, dabei von Seite zu Seite an, ist sie doch der Struktur des Comics und dem medieninhärenten Spiel mit Sichtbarem, Unsichtbarem und Verdecktem geschuldet. Aus den dialektischen Spannungsverhältnissen zwischen diegetischem und extradiegetischem Raum, wie sie von Pascal Lefèvre in mehreren zentralen Texten – Pour une lecture moderne de la bande dessinée, Architecture dans le neuvième art und The Construction of Space in Comics – anschaulich beschrieben wurden, ergibt sich die sequentielle räumliche Inbesitznahme der Buchseiten und der darauf dargestellten Stadt. Das vorsätzliche Anbringen von Sprüngen macht, um hier George Perecs Theorieschrift Espèces d’espaces für das Medium Comic nutzbar zu machen, den Raum als Erfindung, aber eben auch als (potenzielle) Rückversicherung erfahrbar. Auf der inhaltlichen Eben wiederum wird die Infragestellung der Individualität bis zur Aufhebung der Identität und der Kohärenz des Subjekts ausgestellt – ganz in der Tradition der literarischen Stadtdarstellung im Allgemeinen und der Abbildung New Yorks im Comic im Speziellen. Das Stichwort der fabelhaften Stadt Gotham und ihrer die Narren spielenden Bewohnerinnen und Bewohner drängt sich hier auf, das wie im unentbehrlichen Brewer’s Dictionary of Phrase & Fable nachzulesen ist, Washington Irving in seiner Erzählung Salmagundi für die Moderne neu nutzbar gemacht hat. Das Monster, die lebendige rhetorische Gestalt, ist in diesem Sinne ein Gothamist, ein Wesen, um auf Gertrude Jobes’ Klassiker Dictionary of Mythology, Folklore, and Symbols zurückzugreifen, „who plays the fool, a wiseacre, a person of seemingly limited intelligence, one who appears to have blundering simplicity“. Mit diesem facettenreichen Ungetüm und den in die Handlung eingeflochtenen vielschichtigen Prozessen der Medialisierun­g treibt Nicolas de Crécy ein gerissenes, überaus gelungenes Spiel mit den Themenfeldern Authentizität, Selbst und Raum. Stadtgeschichte, Krimi und düstere Romanze verbinden sich, ganz wie die aus kultisch vorbelasteten Teilelementen bestehende Hauptfigur – denn das Monster ist hier ganz klar die Hauptfigur –, zu einem überaus bemerkenswerten Monstrum von Comic.


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