Wiebke Reinert


Wien ist ein Taschenmesser und Bochum keine Schönheit. Städten bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben ist kein neues Phänomen. Ebenso wenig neu ist die Tendenz, innerhalb stadtplanerischer, politischer, medialer, ökonomischer, alltäglicher und nicht zuletzt akademischer Diskurse bestimmte soziale und kulturelle Phänomene an einen Ort zu binden und umgekehrt bestimmte Prozesse aus diesem spezifischen Ort heraus zu erklären.
Dass Martina Löw und Helmuth Berking dies als »neuen Weg« für die Stadtforschung bezeichneten, wurde 2010 auf einer Tagung an der TU Berlin ausführlich diskutiert. Die Beiträge der Veranstaltung liegen jetzt als Buch vor.
Die AutorInnen aus den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen zeigen, dass es durchaus sinnvoll ist, danach zu fragen, was all die Menschen, die sich mit Stadt beschäftigen und darüber reden, mit ihr planen, sie verkaufen, in ihr leben oder Wahlen gewinnen, da eigentlich tun. Gerade um bei der Suche nach Eigenlogiken, nach denen diese vielfältigen Prozesse funktionieren, nicht zu vergessen, dass diese Suche selbst eigenen Logiken folgt.
Wesentliche Kritikpunkte an der eigenlogischen Perspektive auf das Phänomen Stadt fassen eingangs die Herausgeber-Innen Jan Kemper und Anne Vogelpohl zusammen. Bei der Verengung auf kulturelle Eigenheiten komme es zu einer weitgehenden Ausblendung sozioökonomischer Konflikte und politischer Kontexte der Stadtentwicklung. Außerdem sei die Konzeption von Eigenlogik grundsätzlich auf Lokalismen aufgebaut und beziehe wie reduziere Individuelles auf Lokales. Darüber hinaus ergebe sich aus dem eigenlogischen Erklärungsmuster der Kultur einer Stadt und ihrer EinwohnerInnen ein kulturalistischer Zirkel.
Den ersten Themenblock über Konzepte eröffnet Norbert Gestring, der den Zusammenhang zwischen Stadt und Handeln rekapituliert und deutlich macht, dass (im Sinne Bourdieus) innerhalb einer Stadt von gemeinsamen, geteilten Existenzbedingungen, aus denen bestimmte Handlungsweisen hervorgehen, keine Rede sein kann und somit die eigenlogische Idee des Habitus der Stadt ad absurdum läuft.
Stefan Höhne macht die Differenzproduktion der holistisch-individualisierenden Perspektive der Eigenlogik aus und betont die Bedeutung differenzorientierten Denkens über die Stadt als multiplen Raum.
Nikolai Roskamm widmet sich dem für Urbanitätskonzeptionen archetypischen Terminus der Dichte und zeigt durch eine Re-Lektüre der Klassiker der Stadtforschung, wie die Verwendung des Begriffs Dichte den Forschungsgegenstand Stadt konstituiert(e) und welche Kausalkonstruktionen und Reduktionismen damit einhergehen.
Im zweiten Themenblock, der sich Traditionen der Stadtforschung widmet, skizziert Peter Dirksmeier Argumentationslinien der klassischen Geographie und legt dar, dass es sich bei der eigenlogischen Perspektive um eine veraltete Denkfigur handelt, deren Neuauflage durch intensiveren interdisziplinären Dialog zu vermeiden gewesen wäre. Erhard Schütz setzt sich mit Georg Simmel auseinander und demonstriert, dass es schon diesem mehr um Prinzipien der Individualisierung ging als um Spezifika von je einzelnen Individualitäten, die daraus entstehen. Boris Michel zeichnet die Entwicklung der Stadtsoziologie nach, von der sich die EigenlogikerInnen explizit abgrenzen, und beschreibt, von welchen Stadt-Begriffen in den unterschiedlichen Ansätzen ausgegangen wird. Thomas Bürk erklärt, aus welchem Kontext der Begriff des city habitus kommt und wie er in der deutschsprachigen Stadtforschung populär wurde.
Im dritten Themenblock geht es um Forschungspraktiken. Er beginnt mit einer Rezension zu Martina Löws Soziologie der Städte, in der Hartmut Häußermann kritisiert, dass es sich bei deren Konzept von Stadt nicht um ein soziologisches handele und dass die Tatsache, dass Unterschiede der Städte eine so große Rolle spielen, nicht selbst als soziologische betrachtet würde. Derya Özkan benennt den Anteil der Eigenlogik an einem Klischees generierenden neoliberal urbanism und stellt ein von ihr in Anlehnung an Henri Lefebvre entwickeltes Konzept vor, welches einen kritischen Ansatz zur Erforschung der Produktion von Stadt ermöglichen soll. In Sybille Bauriedls diskursanalytisch informiertem Beitrag wird am Beispiel der Nachhaltigkeitsdebatte deutlich, dass das Eigenlogik-Konzept Differenzen und Dynamiken von Praktiken und Wissensbeständen durch die lokalisierende Typenbildung von Städten konsequent ausblendet. Auch Robert Lorenz verweist auf die immense Bedeutung von Diskursen für die Stadtforschung. Er zeigt den Zusammenhang zwischen Stadtforschung und Ethnologie auf und beweist auf Grundlage eigener Feldforschungen im »schönen Görlitz«, dass sich typische Phänomene einer Stadt nicht aus dieser selbst heraus erklären lassen.
Sirko Möge diskutiert abschließend Ergebnisse der gegenwärtigen, an Eigenlogiken orientierten Stadtforschung und weist auf die vielen blinden Flecken hin, die sich bei einer auf bestimmte Milieus begrenzten Forschung ergeben.
Die Herausgebenden und Beitragenden haben sich die Mühe gemacht, die Leerstellen und Kurzschlüsse des Unternehmens eigenlogischer Stadtforschung aufzudecken. Durch sorgfältiges close reading und mit politischem Bewusstsein verhelfen sie zu reflexiven Einsichten und regen zu kritischem Weiterdenken an.
Städte sind umkämpfte Räume, Sehnsuchtsorte wie Krisenherde, Entlastungsmaschinen wie selling points, politische Bühnen, konkrete Alltagswelten und Gegenstand der Wissenschaft. Die Lektüre veranschaulicht, dass die Vielfalt und Wettbewerbe der Städte auch als Vielfalt und Wettbewerbe der Deutungs- und Erklärungsmuster betrachtet werden müssen – auch derjenigen, die von WissenschaftlerInnen zu deren Verständnis generiert werden.


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