Tina Hedwig Kaiser


Eine abgelegene Gegend im nördlichen Mexiko: In VERANO DE GOLIAT (2010) von Nicolas Pereda wandelt die Kamera traumwandlerisch durch die Landstriche. Eine Geschichte lässt sich nur ganz am Rande finden. Sie wird in unscharfen Bildkompositionen zur Nebensache, die schlichte Anwesenheit der Protagonisten in den unterschiedlichen Natur- und Dorfräumen stattdessen zur Hauptsache. Schemenhaft sieht man ihre Gestalten, wie sie durch Blätter und Graswerk ziehen und unter Bäumen verweilen: Lange blickt die Kamera unscharf und mit einiger Distanz auf sie, und doch verrätselt sie dabei nichts. Dazu hat der Filmemacher wiederum viel zu konkrete Einfälle für die Inszenierung des Alltags in den kleinen und auch komischen Details. Sei es die Kommunikation einer eben vom Ehemann verlassenen Mutter mit ihrem herangewachsenen Sohn, der nicht so Recht eine Arbeit finden kann, sei es die Frage danach, ob Goliath seine Freundin umgebracht hat, sei es das Auswendiglernen einen Briefes von Enkel zu Großmutter. Es sind schöne brüchige Beobachtungen die Pereda im mexikanischen Hinterland macht. Gerahmt wird dies immer wieder von Bildern, die in kompletter und andauernder Unschärfe die kadrierten Figuren und Räume zeigen, so dass sich ein ganz neues Farb- und Schattengespinst des Kinos eröffnet. Das Unscharfwerden ermöglicht dabei eine ganz eigene Konzentration auf Fragen des Sehens und seiner Ausschnitthaftigkeit im Kino.

In LITTLEROCK (2010) von Mike Ott begab sich die Viennale dann ins US-amerikanische Hinterland. Hier strandet ein japanisches Geschwisterpaar auf der Durchreise nach Los Angeles. In der abgelegenen Kleinstadt finden sie unerwartet Anschluss an eine Jugendclique und trotz der Sprachbarriere, - die einen sprechen kein Japanisch, die Schwester kein Englisch, nur der Bruder ein wenig, hängt man zusammen ab und verbringt die Tage und Nächte miteinander. Partys schließen an Partys an, Radtouren führen in die karge Landschaft und in verlassene Gebäude, man mag sich oder auch nicht. Mike Ott verweilt den Film über auf der Perspektive der Schwester, denn sie wird diejenige sein, die beschließt alleine noch eine Weile in der Kleinstadt zu bleiben. Jobben und Wohnen bei Freunden ohne sich wirklich mitteilen zu können – all das gelingt irgendwie und doch nicht ganz. Sie wird immer etwas daneben stehen, beobachten und sich wundern. Eine andere Unschärfe hält also in diesem Film Einzug, eine des Inhalts: es ist eine der Sprache und der unverstandenen oder nur vermutbaren Intentionen. Irgendwann wird der Bruder dann zurückkehren und seine Schwester abholen. Es wird dann aber auch an der Zeit sein, die japanische Einwanderergeschichte in den USA konkret in den Fokus zu nehmen, allerdings an einem anderen und verlasseneren Ort.

Hong Sang-soo wiederum wird in HA HA HA (2010) seine Protagonisten in der subjektiven Erinnerung, und insofern an inhaltliche Unschärfen explizit anschließend, durch eine koreanische Hafenstadt ziehen lassen. Zwei Freunde erzählen sich ihre Erlebnisse bei einem gemeinsamen Gelage und wie immer wird bei Hong Sang-soo viel gelacht, geheult, gelitten und die Liebe, die Arbeit, das Leben und der Sinn befragt. Unschärfen erzielt hier entweder der Alkohol oder die Luftfeuchtigkeit. Wenn die Protagonisten auf einem Schiff sind, so verschwindet das Umland im Dunst und die Orientierung wird zusehends eingeschränkter. Der temperaturbedingte Dunst sorgt also dergestalt auch für die formale Bildarbeit der Unschärfe. Was hier allerdings umso förderlicher für die Beziehungen sein kann. Bei Hong Sang-soo ist man im eingeschränkten Fokus eben konzentrierter. Und das dann innerhalb der Erzählung manchmal sogar trotz Alkohol und, sowieso immer, mit viel Humor. Einen anders eingeschränkten Fokus – einen der Drogenszene im nächtlichen Pariser Jahrmarktsmilieu rund um die Pigalle zeigte wiederum NEIGE von Juliet Berto. Zur Abwechslung einmal kein aktueller Film wie die anderen drei, sondern einer aus dem Jahr 1981, der zu Ehren des Kameramanns William Lubtchansky, u.a. bekannt für seine Arbeiten innerhalb der Nouvelle Vague, auf der Viennale lief. Dieser hängt sich in seiner Kameraarbeit nie an eine einzelne Figur, sondern setzt die Kadrierung immer so an, dass der urbane Kontext und das atmosphärische Drumherum des Ausschnitts klar wird. Auch wenn dieser innerhalb des nächtlichen Pigallechaos noch so wirr und low-key sein mag. Halbnahe Einstellungen werden bevorzugt und machen die Stadt greifbarer. Die Alltäglichkeit und das soziale Netzwerk von noch so schwierigen Randexistenzen in den Achtziger Jahren gerät dabei ins Zentrum.

MEEK’S CUTOFF (2010) von Kelly Reichardt springt dagegen als aktueller Film ans andere Ende der Zeiten: wir sind hier im eher weiten als wilden Westen der ersten U.S.-amerikanischen Siedler in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Drei Familien werden hier von einem erfahrenen Trapper entlang des Oregon Trails geführt, verirren sich jedoch zunehmend in der Weite und Ödnis der Landschaft. Das Wasser wird knapp und neues ist nicht in Sicht. Spannend wird hier an der Raumkadrierung im Kino, dass Kelly Reichardt der westerngenregemäßen Weitwinkelerwartung entgegenarbeitet. Im 4:3-Format schlägt sie den Möglichkeiten der Präsentation einer bombastischen landschaftlichen Weite ein Schnippchen. Und auch innerhalb der Handlung trägt sich dieses filmische Bildraumkonzept fort: es geht um ein unaufgeregtes Schildern der Probleme eines solchen Siedlerzugs. Wenn ein native american am Horizont auftaucht, dann ist das hier auch nicht mehr eine Horde schreiender bemalter Wilder, sondern ein stiller, skeptischer Einzelner, der ihnen dennoch helfen wird herauszufinden, in welcher Richtung Vegetation und also auch wieder Wasser zu finden ist. Unschärfen der wiederum aufkommenden Kommunikationsprobleme werden hier genauso durch zögerndes und beobachtendes Handeln einiger weniger Protagonisten kompensiert und die Landschaft trägt die Unschärfen für die Kamera diesmal im Staub und Wind mit sich. Alles inhaltliche oder formale Unschärfen also, die auf der Viennale 2010 meist der Orientierung und Fokussierung innerhalb der geschilderten Bildräume dienten. Und ein mehr als schönes Kippmoment für den Kinogänger innerhalb des variablen Realismusanspruchs der Filmarbeiten.


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