Stepan Nest

Silvester Kreil

Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.


Es ist also wieder soweit, erneut versucht die Architekturbiennale in Venedig von Frühsommer bis Herbst, zum Sehnsuchtsort des globalen Architekturdiskurses zu werden. Schon Venedig selbst gilt als ein übersättigter Ort, in dem man sich nicht nur leicht verliert, sondern auch von einer großen Anzahl sehenswerter Objekte und visueller Informationen überfordert wird. Um aus diesem Rummel der unstrukturierten ästhetischen Erlebnisse rauszukommen, sollte man sich ganz bewusst fragen, was man tatsächlich sehen und welche Erkenntnisse man gewinnen will.
Freespace, so kurz, offen und vielsagend ist der von den beiden Kuratorinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara festgelegte thematische Rahmen, dem die Ausstellungsbeiträge in Giardini und Arsenale folgen sollen. Besonderes Anliegen der beiden KuratorInnen ist dabei die Rückbesinnung auf die Essenz der Architektur: »The core of architecture’s agenda«, wie sie in ihrem Biennale-Manifest schreiben. Architektur also, die endlich wieder befreit von ihrem Einfluss auf Gesellschaft, Politik und die komplexen Verflechtungen einer globalen Welt betrachtet und präsentiert werden darf. Indirekt kann man das wohl auch als Kritik an Alejandro Aravenas Kuration verstehen, der bei der letzten Biennale mit Reporting From the Front versuchte den Architekturbegriff jenseits des üblichen Spektrums zu zeigen und in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu setzen.
Die von Farell und McNamara gestalteten Bereiche zeigen die Schwierigkeit ein solch undefiniertes Ausgangsthema zu kuratieren und in einen lesbaren Rahmen zu bringen. Es offenbart sich eine bunte Zusammenstellung von Projekten, die thematisch schwer zu fassen sind und keinen roten Faden erkennen lassen. Einer der prominentesten Ausstellungsbereiche ist beispielsweise mit Modellen aus Peter Zumthors Büro bestückt, warum explizit diese die Thematik des Freespace beschreiben sollen, bleibt offen. Folgend werden sechs Länderpavillons der diesjährigen Biennale besprochen. Jeweils drei von jedem der Autoren: Die Ausstellungen in den Länderpavillons reihen sich nahtlos an die inkonsistente und zu oft belanglose Kuration der Materie durch Farrell und McNamara an. Experimentierfreudige Beiträge, welche den Freespace ausgedehnt verhandeln, sind Mangelware — nur vereinzelt gelingt es, aus der allgemeinen Belanglosigkeit auszubrechen. Überspitzt gesagt: Architektur/Freespace, das sind bei dieser Biennale vier Wände, ein Dach und eventuell ein aufwendig gestalteter Vorplatz. Selten steht der Raum als vielseitiges, erforschbares Element selbst im Mittelpunkt, sondern meist eben nur das architektonische Bauwerk. Leider folgen zu wenige dem Versprechen der KuratorInnen: »Freespace can be a space for opportunity, a democratic space, un-programmed and free for uses not yet conceived.«
Doch wer konnte den Raum aus der bloßen Architekturhülle befreien? Eine Ausnahme ist z.B. der belgische Beitrag, dem es durch die Umgestaltung des eigenen Pavillons in ein öffentliches EU-Parlament gelingt, Raum breiter zu diskutieren. Der deutsche Pavillon wiederum thematisiert die Renaissance von Protektionismus und Nationalismus. Drei weitere Pavillons stechen aus der Masse heraus: Besonders großzügig ist das Spektrum von (free-)spaces, das die KuratorInnen des USA-Pavillons zeigen. Hier wird Raum in seinem gesellschaftlichen Kontext und mit all seinem Konfliktpotenzial auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt. Gezeigt werden Beispiele von orts-spezifischen Initiativen, überregionalen Projekten und unserem Umgang mit dem Universum. In Israels Pavillon wird Raum als religiös und politisch informierter Ort, der sich den umliegenden Gegebenheiten nicht verschließen kann, behandelt. Dem folgend sehen wir eine Reihe von shared holy places in Israel und Palästina sowie deren Funktion als kontroverse und fragile Systeme von Koexistenz.
Der niederländische Beitrag Work, Body, Leisure ist gleichzeitig der verspielteste und geistreichste Beitrag der diesjährigen Biennale. Nicht die physische Ausbildung der Architektur ist sichtbar, sondern vielmehr was diese bewirkt und welche Handlungen der von ihr geschaffene Raum hervorbringt. In diesem Kontext erhält die Zukunft von Arbeitsräumen eine zentrale Rolle. Nebenbei werden aber auch diverse andere Freespaces abseits der Arbeitswelt und wie diese gesellschaftliches Agieren bedingen mitverhandelt. (sk)

Die drei ausgewählten Beispiele stehen für Hauptansätze, die einige TeilnehmerInnen der Biennale in ihren Beiträgen verfolgt haben, sozusagen archetypische Modelle. In den anderen Pavillons sind vor allem bereits existierende vollendete Projekte zu sehen, deren Erscheinung für die Biennale nochmals besonders ästhetisiert wurde. Oder konzeptuelle Ansätze, die oft den Raum jenes Pavillons in eine Kunstausstellung verwandeln. Die architektonischen Qualitäten werden dabei in den meisten Fällen mit semiotischen Mitteln auf bloße Symbole begrenzt.
Der britische Pavillon zeigt das historische Bauwerk als leeren Innenraum und eine Teezeremonie auf der neu ausgebauten Dachterrasse. Wegen dieser minimalistischen Geste funktioniert die Aussage auf einer konzeptuell künstlerischen Ebene. Trotz der symbolischen Instrumentalisierung wendet man sich gleichzeitig auch den sozialen Fragen eines öffentlichen Raumes zu und behauptet, dass die Ausstattung des Pavillons für Themen steht wie: Flüchtlinge, Brexit, Einkapselung, Kolonialismus und Klimawandel. Ist der leere Raum in Wirklichkeit immer tatsächlich frei?
Der österreichische Pavillon zeigt ein klassisches Interventionsmodell. Es ist auch eines der wenigen Beispiele, bei dem das Gebäude selbst und dessen Geschichte nicht ignoriert werden. Die neu entstandene, gekrümmte silberne Fläche, die für die Erde im Maßstab von 1:50.000 steht, ist nicht nur eine konzeptuelle, sondern auch räumlich formale Aussage, die als Abdruck gewisser rein architektonischer Konfigurationen mit dem von Josef Hoffmann gebauten Pavillon in Dialog tritt.
Schon bei seiner Eröffnung nahm der japanische Pavillon im Vergleich zu anderen Einrichtungen im Giardini eine Kontra-Position ein. Ohne traditionell architektonischen Motiven, aber auch ohne einer konsequent modernistischen Architektursprache und dem versteckten Haupteingang ist dieses Anti-Object (Kengo Kuma) sehr provokativ im diskursiven geschichtlichen Rahmen der Architektur-Disziplin positioniert. Es existiert keine eindeutige Schwelle zwischen Innen- und Außenraum, da der ganze Ort als Prozess der kontinuierlichen Bewegung durch Sequenzen von Raumatmosphären gedacht wurde. Japanische Zeichnungen sind gleichermaßen prozessuale Fixierungen – eine visuelle Form des Storytellings. Die im Pavillon momentan ausgestellten graphischen Arbeiten sind eine ganz gezielte und durchdachte Entscheidung, um auf das Thema der Biennale zu reagieren.
Indem der japanische Pavillon Freespace als Verlauf definiert, entpuppt er sich als intelligente Gegenüberstellung zur Vorgabe der KuratorInnen und reflektiert dabei auch den Rahmen, d. h. das System und die herrschende Logik des ganzen Ereignisses. Solche Positionen vermisst man bei Weltausstellungen aktuell am meisten. (sn)

Bereits in den 1950er Jahren formulierte Marshall McLuhan das Verhältnis zwischen Form und Inhalt, indem er sagte: The medium is the message. Er verwendete für seine Argumentation einen Kristallbecher als Metapher, um die damals herrschende Vorstellung, dass der Inhalt vom Behälter unabhängig sei, in Frage zu stellen. Das Problem der Länderpavillons besteht darin, dass diese von dem Ausstellungsmaterial meist getrennt und autonom bleiben, wobei die Ausstellungen in diesen berüchtigten Bauten eher wie eine Ausfüllung wirken. Versuchte Innovation und Neu-Gedachtes gefangen im elitären Käfig der lang vergangenen Idee einer Weltausstellung – monumentale Pavillons historischer Mächte, die im Streben nach dem prestigeträchtigsten Beitrag nach wie vor ein Gefühl von Konkurrenz und Individualismus erzeugen. Statt einer offenen, vernetzenden Diskussion, fördern diese eine immer-wiederkehrende Reproduktion musealer Anordnungen die nur selten impulsive Momente hervorbringen. Dass diese Freespaces eine durch Privatisierung bedrohte schwindende Ressource sind und oftmals Ort territorialer Konflikte, wird nur vereinzelt thematisiert. Dadurch kommt auch die Frage auf, wer überhaupt Zugang zu diesem elitären Freespace der Biennale hat? Wird die Biennale immer noch als ein diskursives Feld der professionellen ArchitektInnengemeinschaft wahrgenommen, oder vor allem als ein Treffpunkt alter KameradInnen, um sich zu amüsieren? Für uns scheint die Biennale in Venedig selbst für ArchitektInnen keine richtige Austauschplattform für kritische Ideen zu sein, sondern eher eine regelmäßig wiederkehrende und behagliche Show. Wer sind eigentlich die BesucherInnen und für wen wird die Biennale heutzutage veranstaltet? Ein konsequenter Schritt wäre gewesen, Giardini und Arsenale für alle zu öffnen und tatsächlich einen frei zugänglichen, für alle verhandelbaren Freespace zu schaffen.
Kritische Gedanken konnte die diesjährige Biennale mit ihren meist belanglosen Beiträgen noch seltener anregen als vorhergehende. Es besteht die dringende Notwendigkeit einer Kritik von innen, d.h. einer Position, die von den TeilnehmerInnen selbst bewusst und präzise formuliert und in ihren Beiträgen nachvollziehbar und anschaulich gezeigt wird. Sonst transformiert sich die Architekturbiennale in Venedig zu einem sehr umfangreichen aber flachen Katalog der Gestaltungstechniken, bei dem Architekturdarstellungen auf infografische Methoden reduziert werden. Wir stellen uns somit auch bewusst gegen die KritikerInnen, die der Biennale in den letzten Jahren vorwarfen sich zu wenig mit der Gestaltungsthematik zu befassen. Haben wir auf die Fragestellung, bzw. das von den Kuratorinnen vorgeschlagene Thema eine Antwort bekommen? Gibt es Beispiele für die Qualitäten und Funktionen der architektonischen Essenz und wie sich diese im Freespace zeigen? Vielleicht sollte man nicht nur die Antworten kritisieren, sondern generell die Fragestellungen, die eine Biennale hervorbringt.


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