Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Karl Brunner (1887 — 1960) war ein österreichischer Städtebauer, der von 1929 bis 1948 die Stadtentwicklung in Lateinamerika wesentlich beeinflusste. Er entstammte der Wiener Städtebauschule, studierte in Wien bei Karl Mayreder, einem Zeitgenossen Otto Wagners, und beteiligte sich nach seiner Rückkehr 1948 bis zu seinem Tod 1960 am Wiederaufbau Wiens.
Trotzdem schien Brunner lange Zeit hierzulande in Vergessenheit geraten. Andreas Hofer, der am Städtebauinstitut der TU Wien lehrt, hat nun einen »Zwischenbericht« zu seinen langjährigen Forschungen zu Karl Brunner und dem Einfluss des europäischen Städtebaus auf Lateinamerika im Allgemeinen in Buchform herausgebracht.
Eine chilenische Delegation, bestehend aus fortschrittlichen KünstlerInnen und PlanerInnen, war Ende der 1920er Jahre auf den Wiener Städtebauer Brunner aufmerksam geworden. 1929 wurde er in Santiago de Chile zum städtebaulichen Berater der Regierung berufen und beeinflusste in den kommenden Jahren in höchsten Planungsämtern insbesondere die städtebauliche Entwicklung von Santiago, Bogotá und Panama-Stadt, aber auch zahlreiche Entwicklungskonzepte von Provinzstädten in Chile, Kolumbien und Panama. Andreas Hofer zeichnet in seinem Buch das fachliche Profil des Städtebauers Brunner nach und setzt die Einzelperson in Beziehung zum historischen Kontext, insbesondere zur architektonischen Moderne. Mit dieser teilte Brunner das Interesse an sozialreformerischen Konzepten, begegnete aber wesentlichen Paradigmen der »Funktionalen Stadt«, wie sie in der Charta von Athen propagiert worden war, mit Kritik. Brunner war beeinflusst vom sozialen Wohnbau des Roten Wien, kombinierte funktionale Fragen aber immer mit einer akribischen Analyse des Status Quo vor Ort. Den Planungen gingen detaillierte Analysen der existierenden Stadt voraus. Er analysierte die Wohndichte – die EinwohnerInnenzahl bezogen auf die bebaute Fläche –, setzte Luftaufnahmen als Analyseinstrument ein, ließ Verkehrszählungen durchführen und distanzierte sich von den Stadtvisionen, die auf Kahlschlag und einer »tabula rasa« beruhten. Er konzipierte pragmatische Strategien auf der Ebene der Stadterneuerung und Stadterweiterung, und statt einem radikalen Kahlschlag setzte er auf durchdachte partielle Eingriffe im Stadtgefüge.
Le Corbusiers Stadtvisionen betrachte­te er als einen Kniefall vor dem Indi­vidual­verkehr, während Brunner selbst die Wichtigkeit des öffentlichen Verkehrssystems betonte und einen Baustopp in Quartieren durchsetzen ließ, die öffentlich nicht erschlossen waren. In seinen Stadtentwicklungsplänen finden sich dezidiert gemischte Zonen, die eine funktionale Trennung konterkarieren. Interessanterweise mussten Karl Brunners Konzepte in seiner Zeit unmodern und traditionell wirken, heute aber wirken seine Strategien überraschend zeitgemäß. Seine reformistische Auseinandersetzung mit der Stadt wurde in späteren Jahren durch morphologische Untersuchungen ergänzt. Brunner kritisierte die vorherrschenden Rastergrundrisse der lateinamerikanischen Städte, da sie aus seiner Sicht eine Abstraktion waren, die nicht zuletzt topografische Gegebenheiten eines Kontextes negierten. Brunner setzte – wie Andreas Hofer betont – den vorgefertigten Modellen, die viele EuropäerInnen nach Südamerika zu exportieren trachteten, eine beweglichere Städtebaupraxis entgegen, geprägt von trial and error, Empirie sowie Adaptions- und Lernfähigkeit. Karl Brunner wäre in diesem Sinn als spätmoderner Vordenker zu entdecken. Seine Vernetzung von Städtebau, Politik und Volkswirtschaft, die Integration sozialwissenschaftlicher Parameter und der Kulturwissenschaft in die Planung, seine Kritik an einer profitorientierten Wohnbaupraxis sind Bausteine eines integrativen Städtebaus, dessen Grundsätze auch heute noch relevant erscheinen.


Heft kaufen