Christa Kamleithner


Stadtland Schweiz ist das gebundene Endergebnis eines interdisziplinären Forschungsprojekts, das sich mit dem grenzüberschreitenden »Raumgebilde« Schweiz beschäftigt hat; als Ausgangspunkt diente die These, dass die Schweiz als eine zusammenhängende Stadt oder Agglomeration zu begreifen sei, was den Klischeebildern einer ländlichen Schweiz entgegengesetzt wird. Als bereits etablierten Terminus für diese Art von Siedlungsstruktur könnte man auch Thomas Sieverts’ Begriff der »Zwischenstadt« einsetzen, der das Verschwinden der Grenzen zwischen Stadt und Land beschreibt. Diesem Phänomen nähert sich das Projekt mit Fallstudien zu den einzelnen Schweizer Metropolregionen und allgemeineren Beiträgen. Eine Fotoserie dokumentiert die Schweizer Stadtlandschaft eindringlich und wirft die Frage auf, ob lediglich der Blick des Fotografen diese ungeliebte Landschaft in ein neues Licht setzt oder ob die Schweizer Architekturpartikel – die auch in der Peripherie von mehr Baukultur sprechen – doch ihren Teil dazu beitragen. Das wesentliche Argument zum Kauf des Buches in Architektenkreisen werden wahrscheinlich die Analysen und Visionen von MVRDV sein, die grafisch ansprechend sind, inhaltlich horribel, jedenfalls aber vielleicht auch optisch veranlagte Menschen zum Lesen bewegen – womit sie ihren wesentlichen Zweck erfüllt hätten.
Die zentrale Frage des Projekts ist jene nach der Verwaltung der Zwischenstadt – insofern ist das Buch allgemein interessant, auch wenn sich die Fallstudien mit Regionalem beschäftigen. Diese Frage wird immer wichtiger, da sich die Grenzen von Siedlungseinheiten kaum mehr mit politisch-administrativen Grenzen decken und durch die steigende Mobilität und das Auseinanderfallen von Wohn-, Arbeits- und Freizeitorten die politische Mitsprache und Verantwortung vor Ort häufig unmöglich gemacht wird. Dies ist in einer Föderation wie der Schweiz besonders problematisch, da steuerliche Unterschiede zwischen Gemeinden zu enormen Diskrepanzen zwischen Infrastrukturkosten und Steuereinnahmen führen können. Von daher scheint es nahe liegend, den Zusammenfall von politischem und funktionalem Raum zu wünschen, also eine Aufhebung der historischen, dysfunktional gewordenen administrativen Grenzen und deren Neuziehung entlang gegenwärtiger Kriterien. Nur entlang welcher Kriterien? Eine Beantwortung ist nicht nur nicht möglich, sondern ausgesprochen gefährlich; sie zurückzuweisen, scheint mir eines der Hauptverdienste des Buches. Abgesehen davon, dass politische Grenzen geradezu Anlassgeberin für Aktivitäten aller Art waren und sind, sich also die verschiedensten Tauschbeziehungen um sie entwickeln, zeigt die amerikanische Raumordungspolitik, was ein solcher Zusammenfall bedeutet: die Ausdifferenzierung der Bevölkerung entlang von Einkommensgrenzen und deren Rückzug in ihre je eigenen Reservate – und damit auch die Unmöglichkeit einer Umverteilung. Was die Fallstudien nun dokumentieren, ist – neben anderem – die historische Entwicklung verschiedener Regionenverbände, die zum Teil nur auf Vereinsbasis bestehen, deren stärkere Institutionalisierung aber zu erwarten ist. Auch wenn die Frage nach der richtigen »Betriebsgröße« von Regionen auftaucht, wird eine Antwort weniger in Großregionen und Superkantonen gesehen, sondern vielmehr in wechselnden Zusammenschlüssen und der Überlagerung verschiedener Verwaltungsebenen, um damit den (Finanz-) Ausgleich zwischen den Gemeinden und Kantonen sicherzustellen.[1]
Die Diskussion um Ausgleich und Umverteilung beruht auf der Tatsache, dass eine flächendeckend gleiche Versorgung mit Infrastruktur finanziell wie auch ökologisch problematisch scheint. Eine interessante Feststellung ist dabei jene, dass es genau diese Politik war, die die Zersiedlung und Peripherisierung ländlicher Regionen gefördert, wenn nicht hervorgerufen hat. Nunmehr geht man davon aus, dass eine Differenzierung und Spezialisierung von Teilräumen sowohl ressourcenschonend wie auch ökonomisch notwendig ist. Der polit-ökonomische Begriff für das Instrumentarium einer solchen Entscheidungsfindung ist governance. [2] Governance steht für die Transzendierung des Staates, für eine komplexe wie diffuse Verbindung von wirtschaftlichen und politischen Institutionen und der »Zivilgesellschaft«. Darunter kann man Bürgernähe verstehen, in diesem Zusammenhang auch das Zusammenarbeiten von bisher eher getrennten Verwaltungsebenen; die Zielsetzung »more competitive and liveable cities« (Werden hier wettbewerbsfähig und lebenswert gleichgesetzt?) legt aber dann doch den zentralen ökonomischen Kern offen. Von daher scheint eine ergänzende Lektüre geboten, und zwar jener Texte, die sich mit der Gouvernementalität auseinandersetzen, [3] dem philosophischen, an Foucault orientierten Parallelbegriff zum verwaltungstechnischen der Gouvernanz.
Vor der Negativfolie einer modernistischen Funktionentrennung, wie sie MVRDV in ihren Zukunftsszenarien bis an die Grenze des Machbaren treiben – in einer Radikalität, die nur obrigkeitsstaatlich durchsetzbar ist –, nehmen sich die Gefahren des Neoliberalismus allerdings vergleichsweise harmlos aus.

Angelus Eisinger und Michel Schneider (Hg.)
Stadtland Schweiz. Untersuchungen und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung in der Schweiz
Zürich: Avenir Suisse, 2003,
Basel Boston Berlin: Birkhäuser, 2003
408 S., EUR 58

Fußnoten


  1. Eine »Politik der ‚jumping scales«, um mit Klaus Ronneberger zu sprechen, siehe dazu den Artikel in diesem Heft ↩︎

  2. Womit sich die Studie zur Glattal-Stadt von Alain Thierstein, Thomas Held und Simone Gabi besonders auseinandersetzt. ↩︎

  3. bspw. Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Suhrkamp: Frankfurt am Main 2000. ↩︎


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