Julia Fischer

Julia Fischer, Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und der Università degli Studi di Pisa. Forschungsaufenthalte am UCLA Film und Television Archive.


Seit dem linguistic turn werden von den Kulturwissenschaften unter anderem auch Städte als Texte aufgefasst: Man kann sie lesen, sie werden geschrieben. Aber auch über sie wird weiterhin Reflektives geschrieben, und sie regen die Entstehung von literarischen Texten an.

Wer im Schnelldurchlauf einige interessante Aspekte der urbanen Textualität Wiens kennen lernen möchte, ist bestens aufgehoben bei Wien: Die Stadt lesen. Dieses kompakte Buch, herausgegeben vom Sozialhistoriker Hubert Christian Ehalt, ist Band 2 einer Bibliothek urbaner Kultur. Ironischerweise beheimatet in der Bibliothek der Provinz, hat sich diese Reihe vorgenommen, städtische Kulturen kritisch zu beleuchten, reflexiv gegen überkommene Sichtweisen anzuschreiben, Diskussionen anzuregen und damit selbst zur urbanen Kultur beizutragen. Nicht zuletzt will sie auch die Selbstdarstellung Wiens als Wissensstadt fördern. Soweit die Abklärung der eigenen gesellschaftlichen Relevanz.

Wie wird dieses Konzept jedoch im konkreten Fall verwirklicht? Wien: Die Stadt lesen holt weit aus und bedient sich vielfältiger kulturwissenschaftlicher und künstlerischer Blickwinkel auf die Wiener Stadtkultur, wobei die Beschäftigung mit Literatur sowie die Literatur selbst das uneingeschränkte Zentrum darstellen. Nach der einleitenden Festlegung von kultur- und mentalitätsgeschichtlichen „Wiener Qualitäten“ durch den Herausgeber werden drei Themenbezirke abgesteckt: „Diskurse“, „Bilder“ und „Erzählungen, Gedichte“.

Als Beitragende für den vorliegenden Band wurden namhafte ProtagonistInnen aus Literatur und Wissenschaft gewonnen. In den „Diskursen“ beschäftigt sich Klaus Kastberger eloquent mit dem Schimpfen als ureigenster literarischer Ausdrucksform der Österreicher, Wendelin Schmidt-Dengler weist auf zu Unrecht vergessene Wiener Autoren und Autorinnen hin. Beide Aufsätze lohnen die Lektüre, obgleich sie sehr knapp gehalten sind und das Thema der Wiener Stadtkultur nur am Rande streifen. Mehr Nähe zur Thematik besitzt Wolfgang Maderthaners Bericht über den legendären Fußballer Matthias Sindelar, der mit seinem geradezu intellektuellen Spielstil den Fußball in gebildeten Kreisen Wiens erstmals salonfähig machte. Margarethe Szeless wiederum führt uns auf die Spur des Sensations-Sozialreporters Emil Kläger, der sich 1904 gemeinsam mit dem Fotografen Hermann Drawe unter Wiener Obdachlose mischte. Kernstück der „Diskurse“ ist jedoch Ruth Klügers Erlesenes Wien: Wie seine Dichter es sahen und sehen. In diesem – auch vom Umfang her gewichtigsten – Beitrag führt uns die Autorin auf eine Zeitreise vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, in ein mal nostalgisches, mal gespenstisches Wien. Das Spektrum der einbezogenen Literaten und Literatinnen reicht von Abraham a Sancta Clara bis zu Ilse Aichinger. Klüger zieht aus der Art, wie Wien in der Dichtung betrachtet wird, vielfältige Rückschlüsse auf die Mentalitäts- und Sozialgeschichte. Ihre differenzierten Betrachtungen lesen sich äußerst kurzweilig – was allerdings auch auf die anderen Texte zutrifft.

Literat, im Sinne von alphabetisiert, ist aber auch die Stadt selbst. Atmosphärische, erheiternde Ausschnitte aus real existierenden Wiener Stadt-Beschriftungen zeigt uns Bodo Hell im Abschnitt Bilder. Seine Beiträge – wahrhafte Stadt-(Ver-)Dichtungen – halte ich für den bemerkenswertesten künstlerischen Beitrag dieses Buchs. Das heißt mitnichten, dass die literarischen Leistungen des dritten Abschnitts, Erzählungen, Gedichte, von geringerer Qualität wären. Unter ihnen finden sich vor allem Beiträge von Elfriede Gerstl und Herbert J. Wimmer. Wer die Werke dieser beiden Fixgrößen der Wiener Literaturszene noch nicht kennt, profitiert hier am meisten. Es handelt sich bei den abgedruckten Texten nämlich um Nachdrucke bereits veröffentlichter Publikationen. In jedem Fall wecken die Kostproben Interesse an den stark in Wien verwurzelten Oeuvres von Gerstl und Wimmer und bieten eine handliche Zusammenstellung stadtspezifischer Texte der beiden.

Bodo Hells Texte allerdings sind Originalbeiträge. Sie bilden einen Schnittpunkt zwischen Stadtanalyse und Literatur. Hell betreibt quasi Feldforschung, indem er sich durch Wien bewegt und akribisch die äußeren Eindrücke, die ihm das wortwörtlich „geschriebene“ Wien verschafft, notiert. Während einer Straßenbahnfahrt mit der Linie 5 sowie – im nächsten Text – einer Zergliederung der Stadtzone Praterstern nimmt Hell den Titel des Bandes wörtlich: Er liest die Stadt, nämlich ihre schriftlichen Hervorbringungen. Getrieben vom Zwang, alles Gesprochene und Schriftliche wahrzunehmen, dringen Botschaften wie „WURST AUFSCHNITT“ in den Text ein und interferieren mit der Stadterfahrung. Im letzten der drei Texte, St. Stephan, tritt dieses ständige Einprasseln sprachlicher Eindrücke auf das Bewusstsein in den Hintergrund. Der Besuch im Stephansdom verspricht „AblenkungsAusblendung, GedankenstromStop und Konzentration auf Wesensfragen“. Aber auch hier ist ein Sich-Sammeln unmöglich: Was draußen die Werbeaufschriften erledigen, wird nun vom kulturgeschichtlichen Hintergrundwissen übernommen. Der Gedankenstrom führt bis zum Turiner Leichentuch – also vom kulturellen Kontext geradewegs zum Textil. Die Stadt-Rezeptionsästhetik, die Hell betreibt, wird von seinen eigenen Fotografien illustriert, die in leuchtenden Farben jene aufdringlichen Wiener Schriftzüge ins Visier nehmen. Immer geht es Hell dabei um das Wien des 21. Jahrhunderts mitsamt all seinen stets gleichzeitig vorhandenen vielfältigen „Zeitschichten [...] der materiellen und immateriellen Kultur“, wie sie Herausgeber Ehalt anfangs als Charakteristikum von Städten beschrieben hat.

Ein „literarisch-ästhetisches Lesevergnügen“ wird uns schon im Vorwort angekündigt – und dieses Versprechen wird von Wien: Die Stadt lesen voll und ganz eingelöst. Das Vergnügen liegt dabei durchaus auch im Häppchenhaften, in der prägnanten Kürze. Gerade weil dieses Konzept funktioniert, würde man sich eine etwas größere Fülle von Häppchen wünschen. Für Nachschub ist jedoch gesorgt. Die Bibliothek urbaner Kultur ist als stadtartig wachsendes Gebilde konzipiert, denn die Herausgeber planen eine „infinitesimale Reihe“ an Beiträgen dafür. So ist Band 3 – Stadtkultur & Urbanität. Stadtkleider – Stadtkonsum – Stadtspeicher bereits erschienen. Es bleibt zu hoffen, dass die Verbindung zwischen Reflexion und Lesevergnügen in den Nachfolgebänden ebenso gut funktioniert.


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