Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


Der Geburtstag des Wiener Architekten Viktor Hufnagl jährte sich 2022 zum hundertsten Mal, deshalb veranstaltete die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) im Herbst eine Ausstellung über sein Werk, begleitet von einem sehr schönen Katalog (Redaktion und Kuratorinnen: Elise Feiersinger, Gabriele Kaiser, Gabriele Ruf). Hufnagl ist heute in der Debatte wenig präsent, aber spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Schulbau, Wohnbau und Städtebau in Österreich und Wien von den 1950er Jahren bis in die 1980er Jahre. Ausstellung und Katalog versammeln Originaldokumente und eine Fotoserie von Werner Feiersinger über Hufnagls Bauten heute, der Katalog bietet weiters Texte zu seinem Werk.
        Hufnagl baute 1955 in Strobl am Wolf­gangsee Österreichs erste Hallenschule und reihte sich damit in den inter­nationalen typologischen Entwicklungs­kontext im Schulbau ein, wie Maja Lorbek in ihrem Beitrag feststellt. Die Halle erschließt die Klassenzimmer ohne Gänge und bietet Raum für Aktivitäten. Hufnagl folgte sein Leben lang der Idee eines gemeinschaftlichen, zentralen, oft quadratischen Raums, von der Halle bis zum Wohnhof. Das ist in seinen Hallenschulen besonders deutlich erkennbar: Insgesamt baute er neun Schulen zwischen 1952 und 1978, die bekanntesten sind die Anlage in Weiz in der Steiermark und die Modellschule Wörgl in Tirol. Das Quadrat bestimmt in diesen großmaßstäblichen Anlagen nicht nur die Hallen, sondern alle Formen, von den Trakten über die Tragkonstruktion und die Fassaden bis zu Details wie Stiegengeländern.
        Die Gründung der ÖGFA 1965 war der Versuch, an die in Vergessenheit geratene Wiener Moderne wieder anzuschließen und die Verbindung mit internationalen Diskursen herzustellen. Viktor Hufnagl war Teil der achtköpfigen Gründungsrunde und betreute eines der ersten Projekte, die Ausstellung Neue städtische Wohnformen 1966/67 in Wien. Nach der Phase des Wiederaufbaus und der modernistischen Stadterweiterung durch generischen Zeilenbau sollte es nun wieder um Städtebau, um Qualität und Kultur gehen. Der erste Teil der Ausstellung zeigte herausragende, internationale Beispiele der Wohnarchitektur, von Giancarlo de Carlos Terrassenhaus in Urbino bis zu Moshe Safdies Habitat 67 in Montreal. Die Ausstellung wurde begleitet von einem Forderungskatalog, der etwa Nutzungsmischung, Verknüpfung von privaten und öffentlichen Räumen, Dichte, Partizipation und Forschung zu industrieller Fertigung forderte. Im zweiten Ausstellungsteil wurden konkrete Vorschläge von 29 Architekturbüros präsentiert. Beide Teile wanderten durch die Bundesländer, wurden breit rezipiert und trugen sicherlich zu dem Klima bei, in dem wenige Jahre später das Bundeswohnbauforschungsprogramm und die Wohnen-morgen-Wettbewerbsreihe starteten. Eine konkrete Folge war, dass die Stadt Wien Hufnagl beauftragte, mit einer Gruppe von 17 der beteiligten Architekt:innen ein Demonstrativbauvorhaben (»neue Werkbundsiedlung«) zu planen. Dies sollte Hufnagls größtes Projekt und der Grund des Zwists in ÖGFA und Architektenschaft werden, weil von den 17 schließlich nur Hufnagl selbst sowie Traude und Wolfgang Windbrechtinger übrigblieben, um die riesige Siedlung am Schöpfwerk zu realisieren. Aus dem Experimentalbau als Gegenbild zum seelenlosen Zeilenbau wurde eine konventionelle Großwohnanlage, errichtet 1975 bis 1981, die jedoch, wie Michael Klein schreibt, der vermutlich wichtigste Gemeindebau seit 1945 war: »Kein Projekt hatte ähnlich weitreichende Folgen für den sozialen Wohnungsbau, hier ist er, in seiner (Selbst-)Kritik, in seiner Widersprüchlichkeit, vielleicht am besten.« Das Schöpfwerk versucht, urbanen Wohnbau zu schaffen, ganz im Gegensatz zur fast gleichzeitig und in direkter Nachbarschaft realisierten Siedlung Alt-Erlaa, die jedenfalls in der langfristigen Rezeption deutlich besser ankam.
        So sehr Hufnagl mit Grundriss- und Erschließungstypologien im Wohnbau arbeitete, war er doch wesentlich auch Städtebauer – ein zentrales Projekt aus diesem Bereich war der Auftrag der Stadt Wien für die städtebauliche Studie Donaukanal 1971–1980, wieder zusammen mit den Windbrechtingers. Basis der Studie waren Analysen des Umfelds in räumlicher und sozialer Hinsicht, nicht zuletzt auch des städtebaulichen Status quo mit Otto Wagners Donaukanal- und Stadtbahngestaltung sowie Beiträgen anderer Architekt:innen. Die Analyse führte zur Empfehlung, die damals geplante Stadtautobahn entlang des Donaukanals nicht zu realisieren, sondern den Donaukanal als wichtiges innerstädtisches Erholungsgebiet zu entwickeln – was tatsächlich bewirkte, dass die Stadtautobahn nicht realisiert wurde. Derartiges wäre heute wohl undenkbar. Wie Brigitte Redl-Manhartsberger schreibt, die damals zusammen mit Leopold Redl, Hermann Czech und anderen in Hufnagls Büro an diesem Projekt arbeitete: »50 Jahre später, im Zeitalter einer verkehrt verstandenen Verkehrswende, würde man im Rathaus wohl auf einer niveaufreien Stadtautobahn beharren, sie ›Stadtstraße‹ nennen und auf den terrassierten Abdeckungen Nebelduschen installieren.«


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