» Texte / Das Grazer Annenviertel! Was Stadt auch sein kann

Martin Grabner


Ein roher Bretterzaun. Darin mehrere Gucklöcher, die dazu auffordern, einen neugierigen Blick hindurch zu werfen um zu sehen, was dahinter wohl entstehen mag. In der Installation Schauzaun von zweintopf und < rotor > bieten die Löcher Ausblicke auf verschiedene, teils ungewöhnliche, Nutzungsmöglichkeiten eines Stadtraums, der wieder den Menschen gehört. Genau das soll in der Annenstraße, einer Grazer Einkaufsstraße, mit der es seit den achtziger Jahren stetig bergab ging und in der neben Autoverkehr, Straßenbahn und Parkplätzen für die Menschen nur wenig Platz blieb, jetzt geschehen. Seit Jahren engagieren sich verschiedenste Initiativen, die im heterogenen, von Zuwanderung sowie kul-tureller und künstlerischer Szene geprägten Stadtteil entstanden sind, für die Straße und die nähere Umgebung und arbeiten daran, dem Viertel eine eigene Identität zu verschaffen.
Der Kunstverein < rotor > das Stadtmuseum Graz und die Stadtbaudirektion versuchen mit der Ausstellung Schauplatz Annenviertel! Arbeit an der Zukunft einer städtischen Gesellschaft, die Realität und Stimmung des Viertels »jenseits der Mur« ins Museum zu übertragen. Der umtriebige Kunstverein < rotor > hat Initiativen und KünstlerInnen aus dem Viertel eingeladen, ihre Positionen zu Stadt und urbanem Zusammenleben zu formulieren. Das Stadtmuseum Graz bricht in dieser Schau mit dem Modell einer hegemonialen Sammlung und bietet jenen gesellschaftlichen Gruppen Raum, die sonst nur selten in Museen vertreten sind. Im Zentrum stehen zwei Themenbereiche, die im Alltag des Annenviertels permanent verhandelt werden: Zum einen der öffentliche Raum: Wem gehört er? Wer hat Zugang zu ihm und kann sich in ihm wie ausdrücken? Und zum anderen die Migration als Grundbedingung von Stadt, die es ohne Zuwanderung gar nicht gäbe.
Das Museum besitzt ein historisches Stadtmodell, das die Kernstadt von Graz auf der linken, seit jeher besseren Seite der Mur um 1800 zeigt. Joachim Hainzl reagiert darauf mit seinem Annenviertel-Modell, das sich aus Gegenständen von Menschen aus dem Quartier zusammensetzt, die auf einem Luftbild arrangiert sind. Sie erzählen, getragen von viel sozialem Wissen, Geschichten des Viertels und seiner BewohnerInnen. Wie die der muslimischen Gemeinde, die bald aus ihrem Gebetsraum einige Häuser weiter in die erste Moschee der Stadt wandern wird. Der Künstler nimmt auch Stellung zu aktuellen Diskussionen, etwa mit einem Stapel weißer Schachteln mit dem Logo der von der lokalen Wirtschaftskammer getragenen Netzwerkgesellschaft Creative Industries Styria. Die Schachteln sind leer.
Das alternative Stadtmodell zeigt — wie die gesamte Ausstellung — das Annenviertel nicht als simple Kopie der linken Murseite, sondern als etwas bewusst Anderes, Spezielles, Einzigartiges. Es offenbart sich ein Potenzial, das über Jahre, verborgen unter dem Image des »Ausländerviertels«, in einem bunten und lebendigen Stadtteil heranwuchs.
Der Beitrag Hier ist Platz des Lendwirbels, der Initiatoren des bekannten jährlichen Straßenfestes, beschäftigt sich mit der Inanspruchnahme öffentlichen Raums. Halb fertige Straßenschilder laden zum Ergänzen und damit zur Markierung eines öffentlichen Ortes ein. Die Schilder sollen ihren Weg hinaus in die Stadt finden. Der Verein Mutter Teresa Graz thematisiert mit Sichtbar in der Stadt den seltenen Fall einer Minderheit, der albanisch sprechenden GrazerInnen, die hartnäckig ihr Recht auf Nutzung des öffentlichen Raums und Repräsentation in ihm beansprucht: Sie kämpft seit 2005 für die Aufstellung einer Statue von Mutter Teresa an einem sichtbaren Ort.
Die Beiträge zahlreicher Initiativen wie Baodo, ISOP oder der Pfarre St. Andrä, die eine zentrale Rolle im Engagement bei Asylfragen einnimmt, verdeutlichen, dass die Arbeit an einer zukunftsfähigen Stadt auf die Energie der Migration und die Aktivierung der Zivilgesellschaft nicht verzichten kann. Das Büro der Nachbarschaften etwa zeigt einen aus Hostice stammenden Straßenmusiker in zwei Rollen: einmal mit seinem Akkordeon vor einem Supermarkt, einmal bei einer Konzertprobe. Er ist Pianist, jedoch kann er diese Begabung in Österreich nicht nutzen und in die Gesellschaft einbringen. Die Arbeit Es liegt in Frauenhand der Fotografin Maryam Mohammadi und des Vereins DANAIDA zeigt in sensiblen Fotografien die Hände von Migrantinnen, die Erinnerungsgegenstände halten, die sie aus ihrer alten Heimat mitnehmen konnten. Ein Händepaar ist leer. Der Verein MAFALDA beschäftigt sich in seiner spielerisch angelegten Baustelle Superfrau — wie auch in der täglichen Arbeit — mit den heutigen Rollenvorstellungen junger Frauen. Die BesucherInnen können sich ein individuelles Frauenbild zusammenstellen und dann selbst in dieses schlüpfen. Weitere Beiträge kommen unter anderem vom Theater im Bahnhof, dem freien Radio Helsinki, spektral, der Neuen Mittelschule St. Andrä und Leni Kastl, die ausgesprochen charmant öffentlichen Raum bestrickt.
Das Annenviertel hat, wie es die Kulturtheoretikerin Elke Krasny ausdrückt, als eine künstlerische Idee begonnen, als eine Realprojektion. Ab Juni beginnt die bauliche Umsetzung dieser Utopie: Die Stadt investiert über 8 Millionen Euro in die Annenstraße und die angrenzenden Plätze, um nach den Plänen der Architektin Rita Mettler Räume mit Aufenthaltsqualität anstelle von Verkehrsräumen zu schaffen, und arbeitet über ein Stadtteilmanagement mit den lokalen AkteurInnen zusammen. Das Annenviertel ist ein konkreter Ort, steht aber für Stadtteile vieler europäischer Städte. So ist auch die Ausstellung nicht als Dokumentation einer Situation, sondern als Projektion eines neuen Verständnisses von Stadt und Stadtproduktion zu verstehen. Sie zeigt, was Stadt auch sein kann.


Ausstellung
Schauplatz Annenviertel!
Arbeit an der Zukunft einer städtischen Gesellschaft
Stadtmuseum Graz
16. Februar bis 29. April 2012


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