Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Ganz unten nennt sich eine der aktuellen Ausstellungen des Wien Museums und leiht sich damit einen Titel, den Günter Wallraff für seinen Bestseller über die Lebens- und Arbeitsbedingungen türkischer EinwanderInnen Mitte der 1980er Jahre verwenden hat. Wallraffs Buch reiht sich, sowohl was seine Methode als auch was den Erfolg anbelangt, in eine Tradition ein, die mehr als 100 Jahre zuvor begonnen hat. Verkleidet als Obdachlose oder Bettler durch die Großstadt zu streifen und die tatsächlichen Habenichtse zu belauschen, beobachten und fotografieren, erlebte Ende des 19. Jahrhunderts einen wahren Boom. Der Wiener Journalist Emil Kläger, der für ein paar Monate ebenfalls in Lumpen gehüllt durch Wien streifte, berichtet, dass er in einem Männerheim meinte, auf einen besonders eindrucksvollen Obdachlosen gestoßen zu sein, bis er feststellen musste, dass es sich um einen Kollegen handelte. Der Historiker Seth Koven, der auch einen Artikel im Katalog verfasst hat, bezeichnete diesen Trend als „disguise business“ und die Methode als „slumming“.

Die Absicht der Ausstellung Ganz unten ist nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, das Elend des Subproletariats zu zeigen, sondern wie man erst durch den Untertitel erfährt: Die Entdeckung des Elends. Wer sind nun diese Entdecker und Entdeckerinnen und was trieb sie dazu, Taglöhnern und Bettlerinnen nachzustellen und ihnen die Kamera vors Gesicht zu halten? Und warum war das Publikum – hin und her gerissen zwischen Grauen und Faszination – ganz wild auf die Lichtbildvorträge und Berichte in den Tageszeitungen? Die Ausstellung portraitiert eine ganze Reihe dieser EntdeckerInnen aus den Städten Wien, Paris, London und New York und dokumentiert auch deren Werke in Form von Büchern, Zeitschriften, Bildern und Lichtbildvorträgen.

Der Beginn des Interesses an der „anderen Seite“ beginnt parallel zur Entstehung der Industriegesellschaft und der modernen Großstädte. Die alten, übersichtlichen Ordnungen geraten durcheinander und in den Städten wachsen Elendsviertel, die für das Bürgertum so exotisch sind wie die Kolonien bzw. ihnen von AutorInnen, FotografInnen und MalerInnen als so exotisch präsentiert werden. In Eugene Sues Schauerroman Les Mystères de Paris (Die Geheimnisse von Paris) wird ganz ausdrücklich der Bezug zum Kolonialismus hergestellt. Als Rechtfertigung für seine literarische Ausbeutung des Elends verweist Sue wie viele seiner Nachfolger auf ein ethnografisches Interesse. Auch die Absicht auf sozialpolitische Probleme Aufmerksam zu machen, wurde immer wieder mehr oder weniger glaubhaft vorgebracht. Sues Bezugnahme auf den Kolonialismus entsprang ganz dem damaligen Zeitgeist. Werner M. Schwarz, Margarethe Szeless und Lisa Wögenstein, die KuratorInnen der Ausstellung, schreiben im Katalog: „Der europäische Kolonialismus respektive das populäre Interesse an den militärischen Abenteurern und wissenschaftlichen Entdeckungen war in diesen Stadterkundungen – ob fiktiv oder dokumentarisch – immer präsent.“

© Österreichisches Volkshochschularchiv‚
© Österreichisches Volkshochschularchiv‚

In der Ausstellung zu sehen sind auch die kolorierten Dias, die der Journalist Emil Kläger und der Amateurfotograf Hermann Drawe zwischen 1905 und 1908 300 Mal in der Wiener Urania zu ihrem Vortrag „Durch die Wiener Quartiere des Elends“ gezeigt haben, der später auch als Buch erschienen ist. Die schärfste, jedoch auch ein wenig beleidigte Kritik an Vortrag und Buch kam von der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung, die selbstverständlich den in ihrer Zeitung publizierenden Max Winter als den wahren Wiener Sozialreporter sah, weil dieser das Thema erstens früher aufgegriffen hatte und zweitens natürlich viel seriöser berichtete, was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Dieser im Hinblick auf die österreichische Aufteilung in eine rote und eine schwarze Reichshälfte typische und etwas kuriose Konflikt zeigt aber auch, dass es immer schon Kritik an den Sozialreportagen gab und eine genaue Trennlinie zwischen Elendspornografie auf der einen und seriöser Untersuchung auf der anderen Seite nicht immer zu ziehen ist und war. Drawes Fotos sind einerseits ein wichtiges Dokument andererseits muss man ihm natürlich vorwerfen, dass er Fotos auch gestellt hat, um so den Nervenkitzel bei seinem Publikum ein wenig zu erhöhen. Doch eine wirklich realistische Darstellung mittels Fotografie war auch denjenigen nicht möglich, die wie Albert Kohn höchst seriös vorgingen. Auch er half der Realität – um der guten Sache willen – mit Inszenierungen ein wenig nach.

Eine höchst interessante Variante der Lichtbildvorträge waren so genannte Life model-Serien. Hersteller bzw. Auftraggeber dieser Serien waren nicht engagierte oder geschäftstüchtige JournalistInnen bzw. Medien sondern beispielsweise religiöse und sozialreformerische Gruppen wie die Temperenzler für die der Alkoholkonsum die Wurzel aller gesellschaftlichen Übel war. Anders als bei den „dokumentarischen“ Lichtbildvorträgen, die für ein (klein-)bürgerliches Publikum gemacht wurde, richteten sich die Life model-Serien an die Armen selbst. Als Beispiel ist in der Ausstellung die britische Life model-Serie Tied to His Wife´s Apron Strings zu sehen, in der die gute Ehefrau den Mann die Trunksucht austreibt, worauf er – ganz geläutert – beginnt in der Bibel zu lesen.

Die Ausstellung schafft es auf relativ kleinem Raum sehr gut, einen Einblick in die „Elendsdarstellung“ von 1830 bis 1930 zu geben und speziell das Changieren zwischen Voyeurismus und ehrlichem sozialpolitischem Engagement zu zeigen. Der Katalog ist eine informative Ergänzung dazu. Sehr spannend wäre es natürlich, sich einmal die zeitgenössischen Elendsdarstellungen als Thema vorzunehmen. Alleine die Frage der passenden Verkleidung wäre wohl weit schwieriger zu beantworten.

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Ausstellung
Ganz Unten. Die Entdeckung des Elends – Wien ,Berlin, London, Paris, New York
Wien Museum
Ausstellungsdauer: 14. Juni bis 28. Oktober 2007


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