Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.

Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Obwohl sich das kapitalistische System vor allem seit der Finanzkrise von 2007 einer selbst in bürgerlichen Medien formulierten Kritik ausgesetzt sieht, gelten seine ideologischen Grundpfeiler als quasi naturgegebene Wahrheiten, deren Infragestellung in der politischen Alltagsdiskussion nicht vorkommt. Die gerne paraphrasierte Textstelle aus der Einleitung zu Fredric Jamesons 20 Jahre altem Buch The Seeds of Time, wonach es leichter scheint, uns die Zerstörung der Welt und der Natur vorzustellen als den Zusammenbruch des late capitalism, hat nach wie vor seine Gültigkeit. So werden die Vorkommnisse mit Vorliebe als Auswüchse und Skandale thematisiert und der Finanzkapitalismus kritisiert, immer in der Hoffnung, mit sauberen und ehrlichen PolitikerInnen und weniger gierigen Bankern wäre das Problem gelöst. Die vorliegende dérive-Ausgabe nähert sich der Thematik mit einem grundsätzlicheren Anspruch: Ihr Schwerpunkt hinterfragt einen der erwähnten Grundpfeiler des Kapitalismus, der momentan Hochkonjunktur feiert, und unterzieht ihn einer deutlichen Kritik: Scarcity, die Knappheit, steht im Fokus der beiden Schwerpunktredakteure Michael Klein und Andreas Rumpfhuber, die ihre Forschungen im Rahmen des HERA-Projektes SCIBE – Scarcity and Creativity in the Built Environment tätigten. Wie die beiden in ihrem einleitenden Artikel schreiben, gilt im Kapitalismus die Grundkonstante, dass die menschlichen Wünsche – unabhängig vom Grad der Befriedigung der Bedürfnisse – unendlich, »die Mittel dafür jedoch nur begrenzt verfügbar sind. Knappheit wird damit zum universellen Problem.« Klein und Rumpfhuber argumentieren, dass Knappheit »als das fundamentale Argument gegenwärtiger Spar- und Austeritätspolitik« keineswegs »natürlich« ist, sondern erst durch »soziale Prozesse von Zugriffs- und Verteilungsentscheidungen produziert« wird.
So kritisiert Costas Panayotakis in seinem Beitrag Scarcity at a Time of Capitalist Crisis die unhinterfragten Annahmen und Voraussetzungen der Knappheitsideologie und zeigt ihre Auswirkungen auch am Beispiel der aktuellen Situation in Südeuropa. Jamie Peck analysiert den Austerity urbanism, the American way. Er zeigt auf, wie die Auswirkungen der Austeritätspolitik genau von jenen Bevölkerungsschichten getragen werden müssen, denen stets versprochen wurde, dass sie vom angeblichen Trickle-Down-Effekt der neoliberalen Wirtschaftspolitik profitieren würden. Ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. Der Text von Erik Swyngedouw und Maria Kaika holt weit aus und stellt die »galloping planetary urbanization«, ihren Raubbau an den weltweiten Ressourcen, die sozio-ökologischen Ungleichheiten und »the depth and extent of environmental degradation« ins Zentrum seiner Analyse. Loïc Wacquant zeichnet in seinem Artikel für den Austeritäts-Schwerpunkt die Verbannung und Verdrängung der Armen in den letzten Jahrzehnten in Europa und den USA bis zum Status quo der Gegenwart nach, den er als »fortgeschrittene Marginalität« bezeichnet.
Das Kunstinsert im Mittelteil der Ausgabe stammt von Katrin Hornek, die sich ausgehend von einem Zitat Heinrich von Kleists mit dem Verhältnis von Zusammenbruch und Stabilisierung beschäftigt. Der daran anschließende Magazinteil widmet sich der aktuellen Neuauflage von Henri Lefebvres Revolution der Städte (La révolution urbaine). Es ist eines der wenigen Bücher Lefebvres zur urbanen Gesellschaft, das auf deutsch erschienen ist und das erstmals bereits knapp nach der französischen Originalausgabe von 1970. Selbst wenn das Werk trotz vielfacher Kritik an der deutschen Übersetzung auch diesmal nicht neu übersetzt worden ist, gewinnt die Ausgabe doch deutlich an Qualität durch einen ausführlichen Einleitungsartikel von Klaus Ronneberger. In dieser dérive-Ausgabe stellt Ronneberger die unterschiedlichen Dimensionen des Textes und seinen gesellschaftspolitischen Kontext vor und fragt nach, inwieweit Lefebvres Klassiker noch einen wichtigen Referenzpunkt für die kritische Stadtforschung darstellt.
Manfred Russo widmet sich in seiner Serie Geschichte der Urbanität ein weiteres Mal der Stadt als Archipel der Kapseln und thematisiert den Zusammenhang von Heterotopie und der Privatisierung des öffentlichen Raumes.
Last but not least steht auch die Architekturbiennale in Venedig, 2014 kuratiert von Rem Koolhaas, wieder einmal ins Haus. dérive hat Christian Kühn, den Kommissär des österreichischen Biennale-Beitrags, zum Interview getroffen. Die durch ihn kuratierte Ausstellung steht unter dem Titel Plenum. Orte der Macht und präsentiert 200 nationale Parlamentsgebäude weltweit als Modelle im Maßstab 1:500. Sie thematisiert Fragen zu Demokratie, Legitimität, Symbolik, Identität und natürlich zum Stellenwert und zur Rolle von Architektur in diesem Feld.
Noch ein paar dringende Hinweise in eigener Sache: Klaus Ronneberger startet mit der Neuauflage von Henri Lefebvres Revolution der Städte im Gepäck eine kleine Österreichtournee: Zu sehen und zu hören am 7. Mai im afo Linz, am 8. Mai als Gast von dérive in der Akademie der bildenden Künste Wien und am 10. Mai 2014 in Graz.
Einen Monat später, am 11. Juni, veranstaltet das World-Information Institute in Kooperation mit dérive und dem Architekturzentrum Wien das Symposium Stadt als Informationssystem, bei dem wir als Gast u.a. Adam Greenfield er- warten, der das wunderbare Pamphlet Against the Smart City verfasst hat. Dem Thema Smart Cities widmen wir uns auch in der Sommerausgabe von dérive, die rechtzeitig zum Symposium erscheinen wird.
Doch zuvor zieht es uns nach Venedig, wo am 7. Juni die Architekturbiennale eröffnet wird und dérive aus diesem Anlass als Medienpartner hocherfreut die Eröffnung einer neuen temporären Verkaufsstelle vermelden kann: Sie finden sie von 7.6. bis 23.11. im österreichischen Pavillon (das ist der ganz hinten links) in den Giardini.

Ci vediamo!
die dérives


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