Silvester Kreil

Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.


In Zeiten, in denen Nationalstaaten und ihre Grenzen wieder Konjunktur haben, ist für nomadische Lebensformen abseits des Global Business Travellers in unserer Gesellschaft und in der Imagination zukünftigen Zusammenlebens wenig Platz. Auch deshalb ist die Ausstellung Manuš heißt Mensch, die aktuell in der Kunsthalle Wien im Museumsquartier zu sehen ist, äußerst relevant. Am Beispiel von Rom*nja-Communitys und deren Vergangenheit in der sozialistischen Tschechoslowakei legt sie dar, wie diese Volksgruppe systematisch ihrer Lebensgrundlage, ihrer Lebensart beraubt und aus der sogenannten europäischen Leitkultur ausgeschlossen wurde. Das für die Ausstellung verantwortliche Averklub Collective aus Tschechien versteht sie aber genauso als offene Kritik an den Idealen der kapitalistischen Maxime, die seit dem Ende des Ostblocks im eigenen Land vorherrscht. Dem nach Effizienz strebenden Individuum wird mit Hilfe der ausgestellten Exponate eine kollektive und nomadische Lebensweise – als nach wie vor übersehene Alternative – gegenübergestellt.
        Inwieweit marginalisierten Gruppen wie den Rom*nja das Recht auf eine eigene kulturelle Identität verwehrt wird und was das im Kontext von musealer Repräsentation bedeutet, fragen sich die Ausstellungsmacher*innen – zum großen Teil selbst Künstler*innen – gleich im ersten Abschnitt. Wie selten Rom*nja-Kunst bisher im kunsthistorischen Kanon abgebildet und verankert ist, machen sie pointiert sichtbar. So sehen wir eine kleine Ansammlung von volkstümlichen Objekten und vernakulären Artefakten, die uns im ersten Moment unweigerlich in das Setting eines Volkskundemuseums versetzen, bei genauerem Hinsehen offenbaren sie sich allerdings als feine Details einer kritischen Betrachtung.
        Neben den stillen Objekten, die oftmals nur dann zu einem sprechen, wenn man sich aktiv annähert, gibt es einen Beitrag in Form eines dokumentarischen Kurzfilms. Exemplarisch und viel schonungsloser zeigt dieser, unter welchen Verhältnissen die Volksgruppe der Rom*nja – gerade auch in den letzten Jahrzehnten – in Tschechien leben muss. Durch die Überlagerung von eindrücklichen Bildern und Textstücken von Friedrich Engels gelingt es dem Averklub Collective in diesem Film, das Hier und Jetzt mit den unerfüllten Versprechen der sozialistischen Vergangenheit und der Negierung durch kapitalistisch geprägte Regierungen zu verschränken.
        Einen zentralen Platz nimmt daher auch die Auseinandersetzung mit der Wohnsiedlung Chanov im Nordwesten Tschechiens ein. Als klassisches Umsiedlungsprojekt der damals kommunistischen Regierung eignet sie sich bestens, um die Transformation einer Gesellschaft und mit ihr die Transformation der Lebensumstände der Rom*nja innerhalb der letzten 50 Jahre abzubilden. Die ambivalenten Stimmen und Meinungen zur damaligen Umsiedlung, den politischen Hintergründen und dem heutigen Zustand der Siedlung sind in einer weiteren Video­arbeit, bestehend aus Interviews mit Zeitzeug*innen, festgehalten.
        Die historische wie auch aktuelle Realität, die uns vom Averklub Collective präsentiert wird, ist meist bedrückend. Umso erfreulicher, dass in der Ausstellung auch Raum für Beispiele aktivistischer Organisation und Selbstermächtigung ist.
        Manuš heißt Mensch überzeugt durch ein wohldurchdachtes Raumkonzept mit zurückhaltendem, edlem Design und einem kleinen und vor allem feinen Booklet. Ein wunderbares Beispiel dafür, dass eine gut editierte und übersichtliche Beilage oftmals mehr kann als ein prunkvoller Ausstellungskatalog.
        Bedauernswerterweise ist die Ausstellung nicht umfangreicher. Besonders von den durch eine multiperspektivische Betrachtung bestechenden Videoarbeiten hätte man gerne mehr gesehen. Räumlich hätten die Ausstellung und das Averklub Collective mehr Prominenz und Platz verdient. Aber dafür bleibt Zeit, sich die parallel laufende ebenfalls sehenswerte Ausstellung And if I devoted my life to one of its feathers über »Logiken der Ausbeutung, den rasenden Rohstoffabbau und die Umweltzerstörung als koloniales Erbe« anzusehen. Sie präsentiert eine Reihe von kraftvollen künstlerischen Auseinandersetzungen über die Folgen kultureller Verdrängung und inspirierende kollektive Überlebensstrategien – eine Fülle an Beispielen, die sich den gleichen Themen wie schon Manuš heißt Mensch widmen.


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