» Texte / Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen!

Ursula Maria Probst


»Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen!«, lautete der Appell der ukrainischen Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matwijtschuk anlässlich ihrer Friedensnobelpreisrede im Dezember 2022. Ihre Menschenrechtsorganisation Zentrum für bürgerliche Freiheiten dokumentiert russische Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen (2013 wurde sie durch die Dokumentation der gewaltsamen Niederschlagung der Euromaidan-Proteste international bekannt), setzt sich für den Aufbau nachhaltiger Institutionen in der Ukraine und für die Stärkung der ukrainischen Zivilgesellschaft ein. Mit Eine Rede an Europa im Vorspann der Wiener Festwochen am Wiener Judenplatz drangen die Forderungen der Aktivistin nach globaler Solidarität und mehr Zivilcourage im Umgang mit Menschrechten in den urbanen Außenraum und ließen vorbeieilende Passant:innen abrupt stehenbleiben. Was bedeutet es heute, ein Mensch zu sein und sich für Menschenwürde einzusetzen? Wie kann Menschenrechtsbildung geleistet werden? Eine Fragestellung, welche sich die diesjährigen Wiener Festwochen unter der letztmaligen Leitung von Christophe Slagmuylder zu Herzen nahmen.
        Das unter die Haut gehende Grenzziehung, Migration und Solidarität verhandelnde Stück Das Kind von Afsaneh Mahian und Naghmeh Samini konnte zwar nicht wie geplant stattfinden, wurde allerdings in einer Filmversion gezeigt. Der Hauptdarstellerin Fatemeh Motamed-Arya war die Ausreise aus dem Iran verboten worden. Drei Frauen, eine Jesidin aus dem Irak, die vor dem islamischen Staat geflohen ist, eine Afghanin, die ihrem gewalttätigen Ehemann entkommen konnte und eine Libyerin, die vor Hunger und sexueller Gewalt flüchtete, werden an der streng gesicherten Grenze Europas einem Verhör unterzogen. Das Wortgefecht zwischen dem Beamten (dessen eigene Migrationsgeschichte im Verlauf zunehmend durchdringt) und den Frauen (alle drei werden von der iranischen Star-Schauspielerin Fatemeh Motamed-Arya verkörpert) kreist um ein Neugeborenes, dessen Mutterschaft alle drei verleugnen, um die Zukunft des Kindes nicht zu gefährden. Dazwischen eine Dolmetscherin, deren Übersetzungsakt in der fesselnden Dramaturgie des Stücks selbst zu einer politischen Handlung wird.
        Ein Kind wird geboren und stirbt. Aus dieser für die Familie unfassbaren menschlichen Tragödie entspinnt sich im Kampf für das Recht auf einen eigenen Trauerprozess in dem Stück Pieces of a Woman von Kornél Mundruezó, Kata Weber und TR Warszawa ein feministisches Drama. Einen authentischen Fall aufgreifend werden in der Bühnenadaption im Einsatz kinematografischer Techniken         in intimen Beziehungsgeflechten aktuelle Konflikte der gegenwärtigen polnischen Gesellschaft herausfiltriert.
Pandemiebedingt drei Jahre später als geplant gelangte Antigone im Amazonas von Milo Rau / NT Gent auf die Bühne des Burgtheaters und gab unter tosendem Applaus einen Vorgeschmack auf dessen 2024 startende Intendanz der Wiener Festwochen. Brandaktuell – erneut wurde in Brasilien ein Gesetz autorisiert, das den weiteren Raubbau des Regenwaldes trotz heftigster Proteste und bereits spürbarer Auswirkungen des Klimawandels legitimiert – wird von Betroffenen und Schauspieler:innen die Situation unter Heranziehung des antiken Dramas Antigone von Sophokles und deren Aufbegehren drastisch durch blutige Zusammenstöße vor Augen geführt. Der Kampf der Bewegung der Landarbeiter:innen ohne Boden (zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 80 Prozent des Bodens in Brasilien) für eine radikale Landreform steht exemplarisch für die durch unseren Turbokapitalismus beschleunigte ungerechte Verteilung von Ressourcen.
        Einen direkten und gleichzeitig sehr subtilen Zugang zu Migration eröffnete das Stück Exodus von Mikheil Charkviani, der 2016 das Kunstzentrum Open Space in Tiflis mitbegründete und bis dato mehr als 100 Interviews mit vom Krieg betroffenen Menschen führte. In Wien betreten an drei Abenden nacheinander fünf in Wien lebende Menschen die Bühne oder werden wie eine Flüchtlingshelferin via Tonaufnahme eingespielt und erzählen, wie der Krieg, ihre Flucht nach Österreich, ihre Arbeit, ihr Leben und ihr Familienleben veränderte und wie Humor ein rettender Anker ist. So erfahren wir, dass in Afghanistan anstelle von »Du bist süß« – »Du bist salzig« als Liebkosung gilt. In der bis dato noch sicheren Situation in Wien entstehen durch deren authentische Erzählweisen im Publikum Momente der atemanhaltenden Betroffenheit.
        Turbulent geht es in dem Coming-of-Age Stück Contes et Légendes – Märchen und Legenden von Joel Pommerat zu. Szenen des Erwachsenwerden, Prozesse pubertierender Identitätsfindungen, Feedback-Schleifen ausgelöst durch den Druck, Verantwortung zu übernehmen, leben aus einer wortgewaltigen, Mikroagressionen thematisierenden Dramaturgie. Als potenzielle Alter-Egos kommen androide Roboter ins Spiel und bieten futuristische Ausblicke in zukünftige Alltagswelten.
        Angelo (A Strange Loop) von Susanne Kennedy und Markus Selg lässt den Bühnenraum zur Echokammer und zum virtuellen Mitspieler werden, während die Protagonistin Angela mit den Einschränkungen und der Isolation ringt, zu der sie eine Krankheit zwingen. Urbanes Leben in die Hallen des MQ bringt mit rasanter Geschwindigkeit das Stück Skatepark von Mette Ingvartsen, in dem Communitys aufeinander treffen und mit ihren Körpern die Koordinaten des Skatens in parallelen Aktionen ausloten. La Obra von Mariano Pensotti / Grupa Marea feierte im Jugenstiltheater am Steinhof eine grandiose Weltpremiere. ›Gefinkeltes Storytelling‹ lautet der Begriff dafür, dass unter Vorgabe einer Aufarbeitung von Geschichte mittels verschiedener ›Zeitzeugen‹ de facto eine verschachtelte, spannungsreiche, fiktionale Erzählung entsponnen wird. Die biografische Zeit als Landschaft imaginiert der iranische Schriftsteller und Theatermacher Keyvan Sarreshthe mittels eigener Lebensgeschichten und derer seiner Familie in Timescape und nimmt uns mit auf eine geschichtenreiche Zeitreise. Mit großem Einfühlungsvermögen gelang es den diesjährigen Festwochen, einen Bogen zu spannen zwischen verschiedenen Zugängen von politischem Theater und widerständigen dramaturgischen Praktiken. Dem Musiktheater wurde ebenfalls ein Schwerpunkt gesetzt mit originellen künstlerischen Neuinterpretationen der Oper wie Sun & Sea von Regulè Barzdziukaité, Vaiva Grainyté und Lina Lapelyte.
        Zwischen Parlament und Donaupark wurden mit insgesamt 34 Produktionen 20 Spielstätten bespielt. Die zunehmende Ausrichtung auf urbane Jugendkulturen erwies sich als erfolgreich und bewirkte eine Verdoppelung der Zuschauer:innen unter 30 Jahren gegenüber dem Vorjahr.


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