Anja Schwanhäußer

Anja Schwanhäußer lebt als Stadtethnologin in Berlin und Wien.


Im Chicago der 1920er Jahren schickte der Soziologe und ehemalige Journalist Robert E. Park seine Studierenden auf eine sehr ungewöhnliche Reise zur verborgenen Seite der Stadt. In seinen Vorträgen an der University of Chicago vermittelte er einen Sinn für den gesellschaftlichen Wandel, der rund um sie herum geschah: der Zuzug einer hohen Zahl an Migrantinnen und Migranten, neue Vergemeinschaftungsformen, die Entstehung der Populärkultur, die Befreiung aus überkommenen Bindungen und die Herausbildung von Subkulturen, Ghettos und Villages. »Go into the district, get the feeling, become acquainted with people«, gab Park den Novizinnen und Novizen auf den Weg. Sie erforschten mit allen Sinnen die urbane Kultur der Großstadt – urban in dem Sinne, dass die Großstädter in der Regel vom Land kamen und nun mit dem Aufbrechen von Traditionen konfrontiert waren. die Methode war die ethnographische Feldforschung, die man der Anthropologie abgeschaut hatte. Ebenso wie die nicht-westlichen Anthropologinnen und Anthropologen sich für längere Zeit ins Feld begaben, um eine Innenperspektive zu erlangen, tauchten die Großstadt-Elevinnen- und Eleven in den urban Jungle ein. die Phänomene, die Park als erforschenswert erachtete, waren äußerst vielfältig: »Go and sit in the lounges of luxury hotels and the doorsteps of flophouses; sit on the Gold coast settees and the slum shakedowns; sit in the orchestra Hall and in the Star and Garter burlesque.« So ist es in der instruktiven Einleitung von The urban Ethnography Reader nachzulesen.
Vor fünf Jahren publizierte dérive zum zehnjährigen Jubiläum eine Ausgabe zum Thema Understanding Stadtforschung. Nun ist ein im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiger Reader zu diesem Thema erschienen, the Urban Ethnography Reader, herausgegeben von Mitchell Duneier, Philip Kasinitz und Alexandra K. Murphy, sowie ein schlankeres Textbuch von Richard E. Ocejo, Ethnography and the City. Readings on Doing Urban Fieldwork. Dies ist der zunächst letzte Höhepunkt einer Konjunktur der Urban Ethnography bzw. Qualitative Sociology seit den 1990er Jahren. Jenseits des großen Teichs ist heute in jedem Soziologie-Department mindestens ein Ethnologe oder eine Ethnologin im Team. Auch hierzulande scheint es, als seien in der deutschsprachigen Geographie und Soziologie ethnographische Methoden auf dem Vormarsch, wo allerdings oft eine verkürzte Form qualitativer Forschung praktiziert wird. Im künstlerischen Bereich ist der Begriff Feldforschung fast zu einem Modewort geworden. Das Fach Volkskunde (heute u.a. Europäische Ethnologie genannt) arbeitet immer schon mit ethnographischen Methoden, seit den 1980er Jahren auch (und unter Bezugnahme auf die chicago School) im Feld der Großstadt. Das Forschungsfeld Großstadt, wie es Robert E. Park einst umriss, ist vielfältig. Es setzte sich jedoch vor allem ein Strang der Urban Ethnography durch, der schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte, wie den beiden Readern zu entnehmen ist: die Erforschung der ärmeren Inner-city-Neighbourhoods. Deshalb dürfen in beiden Readern William F. Whytes Klassiker Street Corner Society (1943), Herbert J. Gans’ The Urban Villagers (1962) und Elliott Liebows Tally’s Corner (1967) nicht fehlen. Jüngere Klassiker umfassen gleichermaßen benachteiligte Viertel, u. a. Ulf Hannerz’ Ethnographie Soulside (1969), Loic Wacquants Body and Soul (2004) (beide über Ghettos in Washington und Chicago) und Mitchell Duneiers Ethnographie Slim’s Table (1992) über eine Cafeteria an der Chicagoer South Side. Angesichts der Neoliberalisierung der Gesellschaft und der globalen Finanzkrise, einer zerfallenden Mittelschicht und breiter werdender Armut ist der Bedarf nach solchen Studien, die die lebensweltlichen Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen untersuchen, unverändert hoch. Genau dies ist das Urbane der Urban Ethnography: »to reflect the ways in which people tend to think about cities and the social ›problems‹ popularly associated with them«. Weil die Stadt letztlich nur der ort der Forschung ist, an dem die gesellschaftlichen Probleme wie unter einem Brennglas sichtbar werden, die gesellschaftlichen Probleme also allgemein sind und nicht nur die Großstadt betreffen, spricht man gelegentlich auch schlicht von modern bzw. postmodern society als Gegenstand der Urban Ethnography. Urban Ethnography, so Richard E. Ocejo, der Herausgeber des anderen Readers, bedeutet »crossing boundaries«. In der Regel begibt sich der Feldforscher oder die Feldforscherin aus der Mittelschicht in andere, das heißt auf der sozialen Stufenleiter tiefer gelegene, Szenen – die Urban Ethnography kennt auch Studying-up-Forschungen, die allerdings weit weniger bedeutsam sind; bei Ocejo gibt es beispielsweise eine Studie über The Black Bourgeoisie. Der Punkt ist in jedem Fall, dass Feldforschung mit einer existenziellen Erfahrung von Andersheit verbunden ist, die sozial definiert ist. Sie äußert sich im Alltag durch Jargon, Meinungen, Haltungen, Ansichten, Kleidungsstile und Formen von Körperlichkeit. Wie weit in diese Welt eingetaucht werden kann, das heißt wie weit das Verstehen reicht, ist im Fach durchaus umstritten. Ocejo argumentiert mit dem berühmten romantischen Bild Elliot Liebows vom »chainlink fence«, demzufolge die vollständige Immersion wegen der sozialen Differenz unmöglich ist: »When two people stand up close to the fence on either side, without touching it, they can look through the interstices and forget that they are looking through the fence.« Das wirkliche Leben bedeutet in diesem Sinne die Ahnung einer anderen Realität, die einem gewöhnlich verborgen bleibt. Andererseits gibt es Figuren in der (nach wie vor männlich geprägten) SoziologInnen-Community wie Sudhir Venkatesh, einen Feldforscher indischer Abstammung, der die eigene Arbeit als auch nur eine andere Form des Hustlings, also des taktischen Bedrängens, beschreibt. Während die leute, die er untersucht, um Geld oder Jobs husteln, hustelt der Feldforscher um Informationen. der Unterschied zwischen Forscher und Erforschten ist bei Venkatesh nur graduell: »you’re a nigger, Sudhir«, kommentierte ein Informant aus einem Social-Housing-Projekt, das Venkatesh untersuchte, und legte den Arm um die Schulter des Ethnographen. »Ain’t nothing wrong with that. you don’t work, you ain’t making much money, you living with families in the projects. you trying to get by. You’re a nigger just like us.« (Ocejo, S. 183). Während Ocejo die Struktur seines Readers aus der Perspektive des Feldforschers bzw. der Feldforscherin entwickelt: Being there, up Close, Being on the Job, Crossing Boundaries und Doing the Right Thing, strukturieren Duneier, Kasinitz und Murphy nach Feldforschungsthemen: Finding Community in the Modern City, Social Worlds, Public Spaces, Raising a Family, Schooling and the Culture of Control, Getting Paid, Playing Together: The Serious Side of Recreation and Pleasure. Beide sind reich an lebensweltlicher Beschreibung, und beide geben einen wertvollen – im letzteren Fall mit 876 Seiten etwas übertrieben umfassenden – Einblick in die Vielfalt urbaner Lebenswelten. Eine beliebig herausgegriffene Geschichte ist jene von Mitchell Duneier; sie entstammt seiner Ethnographie Slim’s Table und erzählt von der unwahrscheinlichen Freundschaft zwischen einem weißen Büroangestellten und einem schwarzen Mechaniker. die beiden lernen sich in einer Cafeteria nahe der Chicagoer Universität an der South Side kennen, einem ärmeren Viertel der Stadt. der ältere Weiße, Bart, wird für den Schwarzen, Slim, bis zu seinem tod zu einem Art Vater-Ersatz. Während der sozial höher stehende Bart Slim zu Anfang eher als Chauffeur behandelt und ihn als »my man« bezeichnet, nennt er ihn viele Monate später »my friend«. Duneier lotet die Feinheiten dieser Annäherung aus. So sind beide Reader voll mit ergreifenden, anrührenden, aufwühlenden, aufregenden, traurigen, tragischen, coolen, lakonischen, süßen, seltsamen und komischen Geschichten. Wenn der Genuss auch durch das übliche Reader-Format getrübt wird, das immer nur Häppchen der ethnographischen Studie anbietet. Keine Berücksichtigung finden europäische Traditionen der urbanen Ethnographie, was in der Natur der Sache liegt, denn nach wie vor ist die Urban Ethnography von der Chicago School, d. h. US-amerikanisch, geprägt. Nicht alle einflussreichen zeitgenössischen EthnographInnen sind gebürtige US-AmerikanerInnen, doch alle wurden sie mit Studien über amerikanische Ghettos berühmt, darunter Ulf Hannerz, Mitchell Duneier, Sudhier Venkatesh, loic Wacquant und Philippe Bourgeois. Für eine noch ausstehende Geschichte der urbanen Ethnographie Europas müsste man die Tradition der Flanerie berücksichtigen, der Déambulation der Surrealistinnen und Surrealisten, der Dérives der SituationistInnen und Situationisten (die sich ihrerseits auf die Chicago School bezogen haben) und diverse künstlerisch-ethnographische Versuchsanordnungen seit den 1960er Jahren, darunter nicht zuletzt die urbanistischen Interventionen der Wiener Gruppe oder auch die Ethnopoesie Hubert Fichtes. Und man müsste die britischen Cultural Studies einbeziehen, die mit ihrer kulturanalytischen Erforschung der Popular- und Populär-kultur entscheidend zum Verständnis zeitgenössischer und urbaner Kultur beigetragen haben. Insgesamt leisten beide Reader jedoch einen wichtigen Beitrag innerhalb der Konjunktur des Realen, das heißt jenem subjektiven Empfinden der Scientific Community, mit den gängigen wissenschaftlichen Erzählweisen noch nicht alles gesagt zu haben. Die beiden Reader bereichern die Debatte um eine wichtige Frage: Mit welchen Methoden kann dem Realen auf die Schliche gekommen werden? Das Reale, im Sinne des wirklichen lebens, erhält in der Urban Ethnography einen ort: die Großstadt als Pars pro Toto für Gesellschaft.


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