» Texte / Henri Lefebvre und das Vergnügen an der Architektur

Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


A Manuscript found in Saragossa lautet der Titel des Einleitungsessays von Lukasz Stanek, der damit auf einen klassischen Roman von Jan Potocki rekurriert, weil es dort mit dem Auffinden des Manuskriptes eine ähnliche Bewandtnis hatte wie mit Henri Lefebvres Text Vers une architecture de la jouissance. Beim Manuskript, das in Saragossa gefunden wurde, handelte es sich um eine gothic novel von Jan Potocki, einem polnischen Aristokraten aus sehr bekannter Familie, der darin die Geschichte des wallonischen Soldaten Alphonse van Worden und dessen Reise aus den Bergen der Sierra Morena nach Madrid in der Zeit der maurischen Besetzung beschreibt, wo er den merkwürdigsten Charakteren begegnet: Dieben, Kabbalisten, Inquisitoren, Prinzessinnen und Kokotten. In dieser romantischen Novelle, die eigentlich ein komplexer Roman mit modernen Zügen ist, der offenbar zum polnischen Bildungskanon zählt, wird ein geheimnisvolles Manuskript von einem Offizier während einer Schlacht in einem zerstörten Haus aufgefunden, er vertieft sich sofort in die Lektüre und vergisst alles um sich herum. Mit seiner polnischen Herkunft kommt Lukasz Stanek diese Novelle in den Sinn, als er an einem warmen Sommerabend im September 2008 in Saragossa ankommt, um Marco Gaviria, einen bekannten spanischen Urbanisten zu treffen, der noch bei Lefebvre studiert hatte, später in Lefebvres Zirkel aufgenommen wurde, ihn oft in dessen Haus in Navarrenx besuchte und dann umgekehrt mehrfach zu Sommeraufenthalten in Spanien einlud. Gaviria arbeitete nach seinem Studium als Planer und wurde 1973 mit einer Studie zu den neuen Touristenstädten in Spanien betraut. Im Rahmen dieser Studie über Benidorm verhalf er auch Lefebvre zu einem Auftrag einen Text über das Thema Architektur und Vergnügen zu verfassen, der aber viel zu abstrakt war und nicht den Erwartungen der Auftraggeber entsprach. Bei diesem Treffen im Sommer mit Lukasz Stanek erinnerte sich Gaviria an dieses Manuskript, und dass es in der Bibliothek von Cortes zu finden sein müsse. Man machte sich gemeinsam dorthin auf und nach etlichen Stunden der Suche konnte man tatsächlich ein mit Schreibmaschine verfasstes Manuskript mit dem Titel Vers une architecture de la jouissance entdecken, versehen mit handschriftlichen Notizen von Lefebvre. Die englische Übersetzung durch Robert Bononno, Toward an Architecture of Enjoyment, liegt nun vor, sie ist bei University of Minnesota Press erschienen und wird durch einen Text von dem Lefebvreexperten Stanek eingeleitet und kommentiert. Lefebvre hatte kurz vor der Niederschrift dieses Textes bereits das 1974 erschienene Buch La production de l’espace verfasst und auch das Thema der Reproduktion und Freizeit im Kapitalismus durch die Raumproduktion behandelt, die einen sekundären Kreislauf des Profits neben dem der Fabrikation bildet. Diese Reproduktion der Arbeitskraft gilt ihm als eine bürgerliche, kulturelle Hegemonie über das Alltagsleben, jenes für Lefebvre zentralen Bereichs, der den Schlüssel zum Verständnis seiner Theorie darstellt. Daher weisen auch Freizeitangebote und die damit verbundenen Räume einen ambivalenten Charakter auf, weil sie die Arbeiterklasse zum Konsum und zu einer kleinbürgerlichen Existenz verführen. Daraus resultierte nach Gaviria die Frage, was denn eigentlich das wirkliche Vergnügen an der Architektur sei, »denn die Freude am Besuch der Alhambra könne man nicht als Konsum bezeichnen.« (S. xviii) Das Phänomen des Massentourismus mit seinen Serviceleistungen stellt für Lefebvre eine Provokation dar, der er eine andere Form der Freude oder des Vergnügens entgegensetzen möchte. Er formuliert dabei seine bekannte Kritik am Asketismus der westlichen Zivilisation in seinen zahlreichen Spielarten: der bourgeoisen Moral, der kapitalistischen Akkumulation, der modernen Ästhetik, dem Strukturalismus, der Biopolitik. Damit meint er auch die kommunistische Linke, die ebenfalls an der asketischen Haltung des Proletariers festhält, um ihn von verderblichen kleinbürgerlichen Einflüssen fernzuhalten, die die Solidarität zerstören könnten. In der Tat orientierte sich der Marxismus am historischen Prozess eines dialektischen Fortschritts, der erst nach Beendigung des Klassenkampfes und der Übernahme der Macht durch die proletarische Klasse eine allgemeine Parole des Hedonismus ausrufen könne. Lefebvre hingegen war der Meinung Nietzsches, dass ein Materialismus ohne Berücksichtigung des Körpers einen grundlegenden Mangel aufweise, dem es abzuhelfen gelte. Es ging ihm im Grunde um die Suche nach einer Form körperlicher Freude, die nicht kommodifiziert werden kann. Es gab damals zahlreiche Bewegungen mit ähnlichen Anliegen, die auch in die Architektur Eingang fanden. Ausgehend von Felix Guattaris psychiatrischer Bewegung, die eine Konzentration der Kranken in einem riesigen Zentrum verhindern und sie auf die Stadt aufteilen wollte, bis zu ersten Vermittlungsgesprächen zwischen GestalterInnen und künftigen MieterInnen. Man diskutierte bei CERFI (Centre d’études, de recherches et de formation institutionnelles, das von Felix Guattari gegründet worden war und an dem auch Michel Foucault Forschungen durchführte) über den Körper zwischen den Polen der Disziplinierung und Überschreitung, den Körper des psychiatrischen Patienten, den des Minenarbeiters oder den der Homo-sexuellen, die in den Gärten der Tuillerien herumstreiften. Lefebvre führte die Studentenunruhen in Nanterre 1968 auf die Architektur des Campus mit seinen Scheiben und Hochhäusern zurück, weil hier der Rhythmus zwischen Versammlung und Zerstreuung unterbrochen wäre. Dabei ging es weniger um eine Kritik an den Gebäuden oder der Architektur, sondern mehr um das Gleichgewicht zwischen Körpern, Objekten, Aktivitäten, Gender, das aber durch die falsche Vorstellung eines geschlossenen Systems, das nur einen Flow zwischen Produktion und Reproduktion zulässt, gestört werde. In seinem Essay untersucht Lefebvre daher die Konzepte, die mit dem Begriff der Jouissance verbunden sind und oft mit Vorstellung von Vergnügen, Lust, Glück und Freude in Beziehung treten, aber andere Bedeutung erlangen. Es geht um die Jouissance der Architektur, den entsprechenden Räumen und den damit verbundenen Diskursen. Jouissance ist kein architektonischer Effekt, kann aber durch bestimmte körperliche Erfahrungen mittels Architektur gefördert werden. So gibt Lefebvre eine Beschreibung seiner eigenen architektonischen Erfahrungen mit Gebäuden aus aller Welt, die er aufgrund seiner intensiven Reisetätigkeit kennenlernte. Man muss Toward an Architecture of Enjoyment in Verbindung mit The Production of Space (La Production de l’Espace) lesen, um den Gesamtzusammenhang zu erfassen. Wer Henri Lefebvre kennt, wird hier um neue Facetten bereichert, wer ihn nicht kennt, hat die Gelegenheit einen Nachklang aus den frühen 1970er Jahren zu vernehmen, als man große Hoffnungen auf die Veränderung der Gesellschaft durch Architektur setzte.


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