Peter Payer

Peter Payer, ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Technischen Museum Wien.


»Jede Stadt ist ein Individuum«, schreibt der Berliner Publizist Karl Scheffler 1910, wohl wissend, dass sie dies und gleichzeitig noch viel mehr ist. Denn stets verbirgt sich hinter der Einzelerscheinung etwas Größeres eingebettet in eine sich vielfach verzweigende Geschichte der Urbanität. Das reizvolle Spannungsverhältnis zwischen Singularität und Allgemeingültigkeit steht denn auch im Zentrum des Buches, das Rolf Lindner vor kurzem über seine Heimatstadt Berlin vorgelegt hat. Der renommierte Stadtforscher und emeritierte Professor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität präsentiert uns eine konzise, überaus aufschlussreiche Studie über die Essenz dieser Stadt und das, was wir von ihr über Metropolenbildung lernen können.
Schon mit Walks on the Wild Side (2004) verfasste Lindner ein Standardwerk zur Geschichte der Stadtforschung, und auch diesmal geht er es grundsätzlich an. Berlin ist für ihn die paradigmatische Großstadt der Moderne, im steten Wandel begriffen, geprägt von der rasanten Zirkulation von Menschen, Waren und Ideen. Insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine enorme Dynamik, einen Hang zur »bedingungslosen Modernität« aus und eignen sich daher, so die Grundthese des Buches, ideal zur Analyse des komplexen Wechselverhältnisses von Stadt und Mensch: »Ist Berlin die absolute, nichts als moderne Stadt, so ist diese Stadt zugleich unverkennbar Berlin. Ist der Berliner um 1900 in der Vorstellungswelt der Zeitgenossen der Großstadtmensch schlechthin, so ist dieser Großstadtmensch zugleich zweifellos Berliner: modern, sachlich, gegenwärtig und stets erpicht aufs Neue.« Lindner folgt damit seinem Vorbild Georg Simmel, der ebenfalls nicht zufällig Berlin vor Augen hatte, als er mit seinen bahnbrechenden Schriften den Grundstein legte für eine Anthropologie des Stadtmenschen.
Wie die Stadt als »Menschenwerkstatt« (Heinrich Mann) fungiert, sie das Denken, Leben und Handeln ihrer Bewohnerschaft (mit)bestimmt, wird im ersten Teil des Buches anschaulich vermittelt. Was gilt es zu lernen, wenn man neu in die Großstadt kommt? In erster Linie, so Lindner, Schauen, rasches und richtiges Einschätzen von Personen und Situationen. Physiognomische Kenntnisse und die Entzifferung rasch wechselnder Codes werden entscheidend für eine erfolgreiche urbane Sozialisation. Sprachliche, mentale und sinnliche Anpassungsleistungen (der Umgang mit den zahllosen visuellen, akustischen, geruchlichen und taktilen Reizen will gelernt sein) tun ein Übriges, um einen Prozess der psycho-physischen Umformung in Gang zu setzen. Jahre später sollte Gottfried Korff – auch er ein Berlin-Experte – dafür die treffende Bezeichnung von der inneren Urbanisierung prägen, die sich in vielfältiger Wechselbeziehung zur äußeren Urbanisierung herausbildet.
Welch entscheidende Rolle in diesem Prozess der großstädtische Verkehr spielt, wird am Beispiel des Potsdamer Platzes veranschaulicht. Schnelles Reaktionsvermögen, rasche Auffassungsgabe und gleichzeitig größtmögliche Gelassenheit werden an dem verkehrsreichsten Platz Europas, der 1924 die erste Ampelanlage erhielt, zur Überlebensstrategie. Als ähnlich wirkungsmächtig erweist sich die Großstadtpresse. Mit fast 150 Tageszeitungen war Berlin in den 1920er Jahren die weltweit größte Zeitungsmetropole. Sie prägte neue Ausdrücke, neue Arten des Sprechens und Denkens und fungierte damit, wie Lindner betont, als »mentaler Beschleuniger, der in die Vielfalt und den Wechsel der Signale einübt«. Schlagzeilen, Slogans, Verknappung und Tempo werden zur Signatur der Zeit, im Journalismus genauso wie in Theater, Film oder Literatur. Schlagfertigkeit und die sprichwörtlich gewordene Berliner Schnoddrigkeit, gepaart mit einer guten Portion Wortwitz, formen sich zu einem großstädtischen Habitus, der in dem bekannten Bonmot zum Ausdruck kommt: »Eh du Würstchen sagst, hab’ ick se schon jejessen.«
Wie all dies zur Herausbildung einer modernen, zutiefst metropolitan geprägten Popularkultur führte, wird im zweiten Teil des Buches dargestellt. Als zentralen technisch-ökonomischen Impuls identifiziert Lindner dabei die rasant voranschreitende Elektrifizierung. Berlin entwickelte sich zum Zentrum der Elektroindustrie, Weltfirmen wie Siemens & Halske, AEG, Telefunken oder Osram hatten hier ihren Sitz, machten die Stadt zur führenden Elektropolis. Elektrische (Straßen)Bahn und elektrische Straßenbeleuchtung hielten Einzug in den großstädtischen Alltag, das nachts beleuchtete Schaufenster wurde zur Bühne einer glitzernden Warenwelt, neue Modalitäten der Aufmerksamkeit hervorbringend. Berlin galt schon bald als Zentrum der Schaufensterkunst mit bislang nie gesehenen, spektakulären Werbeaktionen. Als Beispiel nennt Lindner das 1925 im Kaufhaus Wertheim installierte Erbsenfenster, das nichts anderes enthielt als eine Riesenflasche, gefüllt mit Erbsen. Wer die Anzahl der Erbsen erriet, konnte phantastische Preise gewinnen, weshalb diese Aktion über Wochen hindurch zum führenden Gesprächsthema der Stadt avancierte.
Als neue (weibliche) urbane Verhaltensweise etablierte sich der Schaufensterbummel, Modeschauen und saisonale Modetrends wurden auch für untere Gesellschaftsschichten relevant, die Herstellung von Konfektionsmode geriet zu einem weiteren wichtigen, überregional bedeutsamen Aushängeschild von Berlin.
Die schier unbändige Liebe zur Veränderung und zum Neuen zeigte sich sodann nirgends so deutlich wie in der grassierenden »Telefonwut«. Binnen kürzester Zeit war in Berlin das größte Stadtfernsprechnetz der Welt entstanden. Bereits 1893 verfügte die Stadt über 20.000 Fernsprechanschlüsse, mehr als doppelt so viele wie in New York. 1925 waren es bereits eine halbe Million Anschlüsse, von denen täglich 1,25 Millionen Telefongespräche geführt wurden. Dass im Zuge dieser neuen Kommunikationseuphorie ein Berliner Karikaturist bereits die »drahtlose Telephonie« und damit das heutige Mobiltelefon erdachte, scheint, wie Lindner hervorhebt, rückblickend nur folgerichtig.
Als wesentliche soziale Folgeerscheinung entstand der Typus der weiblichen Angestellten, sogleich zahlreich repräsentiert in Film und Theater. Und die Kultur- und Unterhaltungsindustrie war es auch, die sich mit Radio, Kino, Revuen, Schlager, neuen Zeitschriften, Mode- und Sportveranstaltungen sowie neuen Formen der Reklame (1929 fand in Berlin der erste Welt-Reklame-Kongress außerhalb der USA statt) enorm verbreiterte und dabei nicht nur die Massen ansprach, sondern auch die künstlerische und literarische Avantgarde. Dieses uneingeschränkt positive Bekenntnis zur Kulturindustrie ließ Berlin, so Lindner, im europäischen Vergleich einzigartig dastehen.
Wenngleich uns manche dieser Entwicklungen im Einzelnen bekannt sind, kommt dem vorliegenden Buch doch das große Verdienst zu, Zusammenhänge erstmals stringent herauszuarbeiten und auf ihre Relevanz für die Herausbildung des »Urbanmenschen« hin zu analysieren. Dass dies stilistisch überaus anschaulich geschieht und der Autor seine detaillierte Kenntnis der zeitgenössischen Literatur und Primärquellen einbrachte, sei an dieser Stelle – beinahe unnötigerweise – erwähnt. Mit dem Blick des erfahrenen, stets empirisch denkenden Stadtforschers eröffnet uns Rolf Lindner am Beispiel Berlins das Verständnis für die Komplexität urbaner Entwicklungen und deren Wirkungs-mächtigkeit bis in unsere Tage.


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