Jens Kastner


Die studentische Protestbewegung in Mexiko explodierte am 26. Juli 1968, am 2. Oktober desselben Jahres wurde sie auf dem „Platz der drei Kulturen“ massakriert: Sie begann mit dem Aufeinandertreffen zweier Demonstrationen im historischen Zentrum der Hauptstadt, als einige Tausend Linke bei einer Solidaritätsdemo für das revolutionäre Kuba auf einige Tausend Studierende des Polytechnischen Instituts trafen, die für die Autonomie der Universität und gegen staatlich gelenkte Attacken auf Studierende auf die Straße gegangen waren. Und sie erfuhr einen grausamen Einschnitt, als das Militär zehn Tage vor den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt im Stadtteil Tlatelolco eine Stunde lang auf protestierende Studentinnen und Studenten schoss, mindestens 400 von ihnen tötete und Ungezählte verletzte.

Die in New York lebende Künstlerin Heidrun Holzfeind hat in der Galerie Taxispalais in Innsbruck zwei Arbeiten gezeigt, deren Kombination einen fundamentalen Kontext eröffnet. Die mexikanische StudentInnenbewegung von 1968 wird nicht dokumentarisch seziert, sondern in eine Problematisierung von Moderne, Modernismus und Modernisierung gebettet.

Die aus 125 Einzelbildern bestehende Dia-Serie C.U. (2006) ist nach dem benannt, was sie zeigt: Ausschnitte und Details, Landschaftsfetzen und Interieurs der Cuidad Universitaria, dem Campus der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), der größten Universität Lateinamerikas. Der Architekt Mario Pani hatte das Großprojekt Anfang der 1950er Jahre nach modernistischen Prinzipien entstehen lassen. Im zweiten großen Raum der Ausstellung sind unter dem schlichten Titel Mexico 68 auf vier Bildschirmen acht Gespräche mit ProtagonistInnen der mexikanischen 68er-Bewegung zu sehen, die die Künstlerin knapp vierzig Jahre später mit ihnen geführt hat. Auf dem Weg zu den Monitoren streifen die BetrachterInnen an der Wand gruppierte Schwarz-Weiß-Fotos, Archivaufnahmen der damaligen Bewegung und eine Vitrine, die Originalmate-rial enthält, u. a. Broschüren von den Olympischen Spielen. Die Ausschreibung für die Gestaltung von deren Logo hatte der Grafiker Lance Wyman für sich entschieden und mit seiner frappierend zeitgemäßen Schrift genau das Image transportiert, an dem der mexikanischen Regierung so viel gelegen war: das eines modernen Landes.

Insgesamt waren es bloß 123 Tage, die nicht nur eine ganze Generation mexikanischer Studierender prägten. Die 68er-Bewegung in Mexiko, obwohl – und weil – so brutal unterdrückt, hat das ganze Land nachhaltig verändert. Es folgte eine Ära der Diskrepanz, so der Titel einer Ausstellung über die Kunst der Post-68er-Jahre, die bis September 2007 in der mexikanischen Hauptstadt zu sehen war. Eine Zeit, in der das politische System zwar nicht zusammenbrach, in der sich die politischen, intellektuellen, sozial bewegten und auch künstlerischen Positionen aber grundsätzlich neu ausrichteten. Die Risse in der kulturellen Hegemonie der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), deren Politik die Bewegung ausgelöst hatte, waren nicht mehr zu kitten. Auch wenn die dienstälteste Staatspartei der Welt das Land noch bis in Jahr 2000 regieren sollte.

Das Jahr 1968 war insofern nicht nur ein traumatischer, sondern auch ein positiver Bruch, betont die Soziologin Martha Zapata Galindo. Den Studierenden diente die Universität als Ort der Auseinandersetzung, als ein Laboratorium von Kämpfen und neuen Erfahrungen. Seit dem Sommer 1968 waren verschiedene Institute in den Streik getreten und kämpften – ähnlich wie in anderen Ländern der Welt zur gleichen Zeit auch – ausgehend von der Universität für eine Demokratisierung der gesamten Gesellschaft. Gerade weil das Trauma vom 2. Oktober, wie der Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II im Rückblick schreibt, „in der Erinnerung die 100 Tage des Streiks (ersetzt)“, kommt der Erinnerung daran eine so große Bedeutung zu.

Die Erinnerung ist nur eine Dimension, an der die Arbeit von Heidrun Holzfeind ansetzt. Sie lässt die damaligen Aktivistinnen und Aktivisten selbst zu Wort kommen und bedient sich dabei unterschiedlicher künstlerischer Techniken, wie der wissenschaftlichen Recherche, der Aufzeichnung, der Archivierung und der Dokumentation, und knüpft mit diesen an die Debatten um die Aktualisierung dieser künstlerischen Mittel an. Aus der Sicht der Beteiligten der mexikanischen 68er-Bewegung wird diese Geschichte nicht nur wach gehalten, sondern auch neu geschrieben. Und zwar in einem doppelten Sinne: So wie jede Erzählsituation einen neuen Zusammenhang darstellt und andere Schwerpunkte in der Erzählung hervorbringt, birgt auch jede Rezeptionssituation neue Erfahrungen – und Kontexte.

Die politische Moderne, von der Mexikanischen Revolution (1910-1920) eingeläutet, hätte durch die Studierendenbewegung radikalisiert und in ihrem Anspruch erneuert werden können. Und zwar nicht mit, sondern gegen die Idee der Modernisierung, der die Regierung anhing und für die sie über Leichen ging. Dass auch der Modernismus darin seine Rolle spielte, hat der Literaturwissenschaftler Rubén Gallo betont: Er bezeichnet Tlatelolco, wo das Massaker vom 2. Oktober 1968 stattgefunden hat, als eines der effizientesten und rationalsten Wohnungssiedlungsprojekte in ganz Mexiko. Auch diese Architektur war von Mario Pani für Bewohnerinnen und Bewohner aus den mittleren Einkommensklassen entworfen worden. Und sie wurde, so Gallo, zur tödlichen Falle für die Studierenden.

Die subtile Schichtung der drei Ebenen ergibt sich durch die Zusammenschau der Frage nach den architektonischen surroundings, also nach dem bereits Gestalteten in der zu gestaltenden sozialen Welt, und den als oral history aufbereiteten Versuchen ehemaliger politischer AktivistInnen in die Gestaltung der Welt einzugreifen. In einem der Interviews, die Holzfeind geführt hat, fragt sich Maria Fernanda Campa, was dieses 68 wohl für die heutige Generation bedeute. „Für sie ist es Geschichte“, resümiert sie dann, „für uns ist es das Leben.“

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Ausstellung
Heidrun Holzfeind
Galerie im Taxispalais, Innsbruck
24. November 2007 bis 20. Jänner 2008

http://www.heidrunholzfeind.com


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