Pop Urbanism
Das Forschungsprojekt »Dietzenbach 2030 – definitiv unvollendet«Das Forschungsprojekt »Dietzenbach 2030 – definitiv unvollendet«
Die verfahrene Situation der Planungsruine Dietzenbachs war Ausgangspunkt, um einen neuen Weg der Stadtentwicklung zu initiieren: »Definitiv unvollendet« rief die BürgerInnen Dietzenbachs dazu auf, die Brachen ihrer Stadt zu besetzen. Nahezu 300 Projekteingaben und mehrere Realisierungen durch die BürgerInnen haben bewiesen, dass ein umsetzungsorientierter »Pop-Städtebau« mit einfachem, klar verständlichem Ansatz gekoppelt mit einem gewissen persönlichem Nutzen für die Beteiligten in der Lage ist, neue städtebauliche Dynamik und neue BürgerInnenbeteiligung zu erzeugen.
Vorgeschichte
Dietzenbach wurde 1973 zur größten Entwicklungsmaßnahme der BRD. Zwei Dörfer sollten als Entlastungsstadt für Frankfurt von 6.000 auf 60,000 EinwohnerInnen mit den entsprechenden Gewerbegebieten wachsen. Sichtbarstes Zeichen des damaligen Planungsverständnisses – nicht weniger als die Schaffung einer Musterstadt für den einfachen Mann und die einfache Frau – war der Entwurf einer »neuen Mitte« mit Großmärkten, Rathaus und Fernstraßenkreuzung, die die als veraltet empfundenen dörflichen Ortskerne ersetzen sollte. Für Jahrzehnte ist sie nun eine Brache mit optimalem Fernstraßenanschluss. Schon wenige Monate nach der Genehmigung versetzte die Ölkrise der Entwicklungsmaßnahme den entscheidenden Stoß. Die Vermarktung stockte, die utopischen Leitbilder veralteten, die Wachstumsprognose musste auf 35.000 EinwohnerInnen reduziert werden. Brachflächen, unvollständig ausgeführte Planungen und überdimensionierte Verkehrsräume prägen heute die Stadt. Die finanziellen Verpflichtungen aus der Entwicklungsmaßnahme, es sollen bis zu 250 Millionen DM gewesen sein, berauben die Stadt ihrer Handlungsfähigkeit. Die auf die Festschreibung damaliger Leitbilder fixierte Planung hat sich als überdimensioniert, nicht fehlerfreundlich und zu starr herausgestellt. Dietzenbach bietet, obwohl in einer Boomregion, heute ein Bild »geschrumpften Wachstums« mit schlechtem Ruf und ohne die Chance zu städtebaulicher Entwicklung.
»100 qm« –Strategie der urbanen Aktion
Die als Reaktion auf diese Situation entwickelte Strategie »100 qm Dietzenbach« rief die BürgerInnen Dietzenbachs zur Besetzung der un-, unter- oder fehlgenutzten Flächen ihrer Stadt auf. Als Projektgrundlage diente dafür eine polemisch verfälschte Stadtkarte, eine »Map«, in der leere Flächen herausgehoben, nummeriert und handhabbar gemacht wurden und damit in das Zentrum der Stadt-Wahrnehmung rückten. 10.000 Haushalte erhielten diese »gefälschte« Karte mit Aufruf (in sieben Sprachen) zur Besetzung. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine der Flächen politisch, rechtlich oder organisatorisch für eine Besetzung gesichert, die Verteilung der Flugblätter setzte Stadt und Experten und Expertinnen also unter den Druck, der für Veränderung notwendig ist Die Stadtplanung entwickelte ein Vorgehens- und Vertragsmuster für Flächenbesetzungen; Bürgermeister und Magistrat gaben für einen Moment einen kleinen Teil ihrer Kontrolle auf und eröffneten Handlungsspielräume, die ExpertInnen kümmerten sich um konkrete Belange interessierter BürgerInnen.
Dies geschah auch angesichts einer im Entstehen begriffenen urbanen Aktion: Das Projekt setzte 2.500 hohe Holzpflöcke in Form einer 800 m langen und quer durch die leere Stadtmitte verlaufenden Installation. Die Pflöcke symbolisierten den BürgerInnen unmissverständlich die Möglichkeit, Claims abzustecken. Sie konnten Holzpflöcke entnehmen, um damit die 100 Quadratmeter Boden zu markieren, die sie nutzen und pflegen wollten. Mit dieser Option konnten Hunderte Kontakte zu BürgerInnen (in einem eigens aufgestellten und vom Projektteam betriebenen Bauwagen) hergestellt werden, auf acht Grundstücken setzten BürgerInnen (temporär) ihre Ideen um. Die politischen und administrativen Gremien beschäftigten sich in Form dieser Herausforderungen auf ganz neue Art mit Städtebau, es hagelte Presseecho, das Projekt wurde durch zwei Filmteams und durch externe WissenschaftlerInnen begleitet.
Fünf neue Typen von Stadtentwicklung konnten wir beobachten:
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Längerfristige Zwischennutzung nicht vermarktbarer Flächen (temporäres Grabeland): Dieser Typus stellte sich als am problematischsten heraus. Die BürgerInnen hatten den Anspruch, eine Garantie für jahrzehntelanges Nutzungsrecht auf dem besetzten Land zu erhalten. Die Stadt konnte diese Garantie nicht geben, da das Land, ausgewiesen als Gewerbefläche, mit dem Wechsel zu Grabeland so stark an Buchwert verloren hätte, dass eine finanzielle Schieflage entstanden wäre. Unserer Meinung nach trat hier ein generelles Problem temporärer Flächennutzungen zu Tage.
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Kurzfristige temporäre Aktionen im Stadtraum während laufender Planungsverfahren (Hühnerhof für Kinder): Dieser Typus war der größte Erfolg. Ein klar geplantes Ende der Besetzung zerstreute die Zweifel der Stadtverordneten, und es entstand für ein Jahr ein in der Öffentlichkeit sehr beliebtes Projekt.
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Übernahme öffentlicher Aufgaben (Abenteuerspielplatz, öffentliche Gärten): In Bezug auf das Verhältnis zwischen Kommune und BürgerInnen scheint es nicht das Problem zu sein, die BürgerInnen zum Handeln zu motivieren, sondern vielmehr, bei den Städten Anknüpfungspunkte für dieses Engagement zu schaffen: So sehr herrscht Angst vor Kontrollverlust und Scheitern seitens der städtischen Ämter vor, dass lieber dem Nichtstun der Vorzug gegeben wird.
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Veränderung und Umsetzung liegen gebliebener und überambitionierter Planungen (Kleingartenanlage): Ein verändertes Verständnis der BürgerInnen zu Stadt und Planung wurde offenkundig: Von der Kommune erwarten die BürgerInnen weit weniger, als diese selbst gerne leisten würde – gerade angesichts abnehmender Handlungsfähigkeit der Kommunen eine wichtige Erkenntnis. Die Konsequenz, die Beschränkung der Stadt auf das Management von Möglichkeiten anderer AkteurInnen, steht allerdings im Widerspruch zu dem ausgeprägten aber veralteten Selbstverständnis der Kommunen als visionäre Versorger ihrer (für unmündig erachteten) BürgerInnen.
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Prinzipielles Erkennen von Stadt und Leere als Aktionspotentiale (mehrere Kunstprojekte der Schulen z. B. mit bemalten Pflöcken im öffentlichen Raum): Es gab hier einige KunstlehrerInnen, die die Chance sahen, mit ihren SchülerInnen einfach auf leeren Flächen zu arbeiten und auszustellen, die damit die Stadt, die Stadtplanung und die Ehrfurcht dem Grundbesitz in lockerer Art ihrer Ernsthaftigkeit beraubten und als urbanistische Spielwiese entdeckten.
Langfristige Wirkungen und städtische Dynamik
Hypothese des Projektes war es gewesen, für Situationen mit eingefrorener städtebaulicher Dynamik durch kurzfristige, spielerische Handlungsoptionen schnellen, greifbaren »Pop-Städtebau« zu erhalten, und gleichzeitig langfristig
- neue Dynamik in den von technokratischer Planung hinterlassenen Stillstand zu bringen,
- mit Innenentwicklung die erfolglose Konzentration auf Neuansiedelung zu ersetzen,
- die BürgerInnen als notwendige Ressource für Stadtentwicklung einzubringen und dafür Anknüpfungspunkte zu schaffen,
- die BürgerInnen zu motivieren, Stadt mit Selbstverständlichkeit und als produktives Gegenüber zu Politik und Verwaltung zu bespielen.
»Definitiv unvollendet« hat einige langfristige Entwicklungen hinterlassen: Initiativen des Ausländerbeirates zur Umsetzung von Grabeland, einem Hochzeitszelt und Bolzplätzen sowie die Gründung städtebaulicher Vereine durch die BürgerInnen (Internationale Gärten Dietzenbach, Club 100). Sie erfreulichste Neuigkeit ist, dass das Stadtparlament eine Einladung an das Projektteam zur Diskussion der Projektergebnisse ausgesprochen und sich darauf folgend dazu entschlossen hat, den Magistrat aufzufordern, eine große kommunale Brache in Hunderte von Grabelandparzellen aufzuteilen und interessierten BürgerInnenn zur Eigenentwicklung zur Verfügung zu stellen. Damit betreten neue AkteurInnen die Szene der Stadtplanung, und alte besinnen sich auf ihre städtebaulichen Einflussmöglichkeiten. Wenn sich durch eine Option, hier die der Flächenbesetzung, also durch das Zugänglichmachen von Stadt neue Akteurinnen finden und eine nachhaltige Dynamik generieren lassen, so hat das Projekt sein Ziel erreicht.
Das Projekt wurde im Rahmen des BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung)-Forschungsverbundes »Stadt2030« durchgeführt unter fachlicher Begleitung und mit wissenschaftlicher Begleitforschung durch das DIFU und verfahrensmäßiger Betreuung durch den TÜV Rheinland Projektteam: FB Stadtplanung und Bauen, Stadtverwaltung Dietzenbach, Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt/Main, Büro Topos, Darmstadt, Technische Universität Darmstadt, Fachgruppe Stadt, ab Mitte 2002 vertreten durch Büro mwas, Frankfurt/Main
Claudia Becker
Martin Wilhelm