Susanne Karr


Wer ins Wirtshaus geht, ist hungrig oder zumindest durstig, wahrscheinlich beides. Darüber hinaus bestehen vielleicht weitere Ansprüche, die erfüllt werden sollen. Welche, und warum gerade hier? Und nicht etwa im Kaffeehaus oder am nahe gelegenen Würstelstand? Was macht aus der Gaststätte ein typisch wienerisches Wirtshaus? Gibt es das Wirtshaus tatsächlich als mythischen Ort oder wird hier von Mythos gesprochen, um ihn herbeizureden?

Auf der Suche nach markanten Merkmalen sind die MacherInnen der Ausstellung Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit auf maßgebliche Objekte gestoßen, die unbedingt zur Requisite eines Wirtshauses gehören: darunter die hölzerne Schank und Kühlwand aus der vorigen Jahrhundertwende und die bekannte schwarze Tafel mit den Tagesempfehlungen, außerdem das Würzensemble mit der berüchtigten Maggiflasche. Ein sowohl architektonisch als auch soziologisch wichtiges Element, der teils hölzerne, teils verglaste Raumteiler, der die Trennung zwischen Schwemme und Gastzimmer markiert, wird ebenso als relevant vorgestellt wie Seidel und Viertel-Glaserl.

Unterteilt in thematische „Extrazimmer“, und mit ansprechenden Details versehen, zeigt die Ausstellung auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches: eine dekorative Gläsersammlung etwa, Würfel- und Kartenspiele. Nicht das Spektakuläre wird thematisiert: Seitdem das Wirtshaus Ende des 18. Jahrhunderts entstanden ist, spielen sich hier die alltäglichen Dinge des Lebens ab. Wobei der Charakter einer Halböffentlichkeit entscheidend ist: einerseits das verlängerte Speise- oder Wohnzimmer, der Ort an dem gegessen wird, und das nicht aus dem bohemienhaften Geist heraus, der in den Kaffeehäusern anzutreffen ist. Das Wirtshaus ist Nahversorger, nicht in jedem Haushalt wird gekocht, und in den Fabriksgegenden in den Vorstädten sind Geschäfte rar. Auch Wein und Bier wurden beim Wirt gekauft – oft wurden die Kinder mit dem eigenen Seiderl- oder Vierterl-Glas hingeschickt, um diese befüllen zu lassen. Es ist beheizter Aufenthaltsraum in Zeiten extremer Wohnungsknappheit. Hier konnten BettgeherInnen die Zeit zwischen Arbeit und Schlafmöglichkeit überbrücken. Andererseits bietet es die Möglichkeit der Unterhaltung und Begegnung: Viele sehr große Wirtshäuser in den ehemaligen Vororten, also jenseits des „Linienwalls“, besser bekannt als Gürtel, hatten regelmäßig große Tanz- und Konzertveranstaltungen. Nicht nur die Strauß-Brüder fanden dort mit ihren Orchestern ihr Publikum, und nicht immer genossen die Veranstaltungen einen guten Ruf. Moralisierende Beamte der Zensur mögen sich über lose Sitten ereifert haben, noch schärfer beobachteten sie politische Umtriebe. Denn auch als Versammlungsorte politischer Gruppierungen waren die Hinterzimmer prädestiniert, wie auch für Vereinigungen und Vereine verschiedenster Interessen.

© Walter Henisch
© Walter Henisch

Das Wirtshaus fungiert gleichsam als neutrale Bühne. Seine Eignung als Film- bzw. Theaterschauplatz illustrieren Filmausschnitte, z. B. aus „Wienerinnen“, einem Film von Kurt Steinwendner von 1952: Eine Frau holt ihren Mann aus dem Wirtshaus nach Hause, eine zeitlose Szenerie. Auf das nicht einfache Verhältnis zwischen Frau und Wirtshaus wird extra eingegangen: Frauen in der Gastronomie wurden oft zweideutige Motive unterstellt, wodurch man sie gleichzeitig zum Freiwild machte. Nur die Wirtsfrau hatte eine relativ unangefochtene Position – ein herzerfrischendes Beispiel war die resolute frühere Wirtin des Gmoa-Kellers, die missliebige Gäste einfach hinauswarf. Die Beobachtungen eines ehemaligen „Brotschani“ im Schweizerhaus, Josef Kurt Darmstädter, können über Kopfhörer nachvollzogen werden. Dieses Tondokument, berührend in seiner Nähe zum beschriebenen Objekt und bestechend in seiner klaren Beobachtung, lässt das Prater-Milieu vor dem inneren Auge lebendig werden. Videos, die drei Varianten der Wiener-Schnitzel-Zubereitung zeigen, tragen zum kurzweiligen Charakter des Ausstellungsbesuches bei. Für sehr junge BesucherInnen gibt es im Atrium des Hauses eine „Kinderwirtschaft“, eine Art Mini-Wirtshaus mit Wirts- und KellnerInnen-Garderobe etc. Spielerisch angehen können auch erwachsenere BesucherInnen die Frage nach dem Typischen des Wiener Wirtshauses: der „Wegweiser zur Gemütlichkeit“, eine Schautafel mit fotografierten Gasthausszenerien aus verschiedenen Städten Europas, von einer Berliner(!) KünstlerInnengruppe festgehalten, ist als Ratespiel aufgebaut: die Photos sollen den entsprechenden Städten zugeordnet werden. Durch Drücken der zugehörigen Taste leuchtet am richtigen Ort auf der Europakarte ein Lichtlein auf.

So kann die „Wiener Gemütlichkeit“ im europäischen Vergleich erprobt bzw. relativiert werden. Der mit dem Untertitel der Ausstellung „Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit“ aufgeblitzte Verdacht, es gehe bei der Beschäftigung mit einem angeblich vergessenen Mythos um das Heraufbeschwören von Identität, bestätigt sich glücklicherweise nicht. Die AusstellungsgestalterInnen legen im Gegenteil Wert darauf zu zeigen, dass das Wirtshaus eine Größe mit fließenden Grenzen darstellt, offen zu den nobleren Restaurants, aber auch zu den Kaffeehäusern und Heurigen andererseits: naturgemäß ein Konglomerat verschiedener Einflüsse, nicht nur der alteingesessenen Bevölkerung, sondern auch der zugereisten, und selbstverständlich beeinflusst durch die jeweilige Umgebung. Es lässt sich erahnen, wie viel sich seit seiner Etablierung, bei gewisser Wahrung des äußeren Erscheinungsbildes, verändert hat.

Vielleicht bezieht sich das Charakteristische eher auf eine Funktion, auf eine gewisse Atmosphäre. In seiner heutigen Erscheinung beruft sich das Wirtshaus auf eine Tradition, die es großteils erst schafft, es scheint eher einer Sehnsucht nach Solidität zu entspringen als einer lebendigen Tradition. Gleichzeitig fordert der gastronomische Zeitgeist eine gewisse Qualität – nicht alle Gäste wären mit tatsächlich traditionellen Angeboten glücklich. Im heutigen Wirtshaus werden Bouteillenweine verkostet und an so mancher Adresse zeigt das Speisenangebot deutliche Einflüsse der Haubenküchen. Die traditionelle bodenständige Fleischküche erhält oftmals leichter verdauliche Konkurrenz.

So wird das angeblich so typisch Wienerische auf beruhigende Art und Weise ins Reich der Mythen verwiesen: Es entwindet sich einer Definition, es ist und war immer offen für Einflüsse verschiedenster Art – authentisch wie das Schnitzel aus Milano, der Strudel aus Böhmen und, nicht zu vergessen, das „Beisl“ aus dem Jiddischen, höchstselbst.

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Ausstellung
Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit
19. April bis 23. September 2007
Wien Museum
www.wienmuseum.at


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