Vanessa Müller


Le Corbusier war bekannt dafür, Strandgut, vom Meer erodierte Backsteine und Klinkerbruchsteine zu sammeln. In den objets à réaction poétique, wie er sie nannte, entdeckte er das poetische Potenzial des Gegenständlichen, das Fragen aufwirft, das Denken inspiriert und eine Formenwelt jenseits dessen, was der Architekt selbst erfinden kann, eröffnet. Auch der niederländische Fotograf Stephan Keppel integriert in die installative Präsentation seiner Bilder in den Räumen von Camera Austria in Graz verschiedene Fundstücke, die wie urbane Äquivalente zu Corbusiers zufallsgesteuerter Formfindung anmuten. Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass Keppel nicht auf der Suche nach etwas Neuem ist, das ihn inspirieren könnte, sondern seine Umwelt als etwas wahrnimmt, das immer schon gestaltet ist, in der Abstraktion des selektiven Blicks jedoch überraschende Novität zu erlangen vermag. Er nähert sich der Stadt als Gebrauchsform an, die er stets nur als Fragment, in ihrer alltäglichen Erscheinung oder als Fundstück wiedergibt. Intensive Bearbeitungen des fotografischen Bildes, das sich als mehrfacher Ausdruck von verschiedenen, teilweise bewusst antiquierten Schwarzweiß-Druckern präsentiert, machen jede Frage nach der Ikonizität von Architektur obsolet. New York, Paris oder Amsterdam sind hier allein auf der Mikroebene des Gebauten präsent, als Detail einer Fassade, einer Holztreppe oder aus ihrem Kontext herausgelöste Säule eines neoklassizistischen Portals.
        Ihren Ausgangspunkt nimmt Keppels fotografische Praxis in Form aufwändig gestalteter Bücher, die er jeweils einer Stadt widmet. Deren gestaltete Umwelt wird in das Foto und das Foto in das Buch übersetzt. Dabei überlagern sich das materielle Erscheinungsbild der urbanen Elemente und ihrer Bildwerdung in einem multiplen Prozess des Druckens, Scannens und erneuten Druckens.
        Keppel fokussiert Muster von Fassaden, alltägliche Ornamente und rhythmisierte Oberflächen. Die Stadt wird zur Partitur, die einen abstrakten visuellen Sound erzeugt. Er streift durch die Stadt und ihre Peripherie, sammelt und fotografiert, druckt das Material aus, verändert das Format, wählt eine andere Papiersorte, druckt es erneut – bis von dem ursprünglich Gesehenen nur noch eine Spur übrig ist, ein Abdruck im Schwarz des Toners. Auch Ateliersituationen, in denen die in Bearbeitung befindlichen Werke zu sehen sind, finden Eingang in Keppels Praxis, die stets auch rekursiv auf sich selbst verweist.
        In Vitrinen sind die den Ausgangspunkt bildenden Künstlerbücher und kleinformatige Prints zu sehen. Einige Motive finden sich in vergrößerter Version an der Wand wieder. Hier gibt es weder Original noch Kopie, sondern nur eine fluktuierende Produktion von Bildern, die recycelt und neu editiert werden. So entstehen widerspenstige Eindrücke eines Stadtraumes, der sich in der Betrachtung primär über seine Oberflächen und Texturen präsentiert, dann, wenn er wirklich zur Oberfläche wird, jedoch fast bis zur Unkenntlichkeit verfremdet scheint. Die Materialität der verwendeten Papiere, von Pantone-Farbbögen in metallisch glänzendem Pastell bis zu den dünnen Blättern aus den alten Kopierern, den Keppel benutzt, bildet eine prägnante zweite Ebene dieser Bilder, die sich gerne zu Clustern fügen, Paare bilden oder als großformatiger Print ganze Wandflächen okkupieren. Klebestreifen am Boden wiederum zitieren die Standmarkierungen auf einem Flohmarkt, hölzerne Stapelhilfen für Rohre lehnen totemistisch an der Wand. Hinzu kommen Bohrkerne aus Ziegelmauern und Beton und tatsächlich auf der Straße gefundene Stühle des Modernisten Gerrit Rietveld. Die gefundenen Objekte interagieren mit den Prints, schweben zwischen Skulpturwerdung und dem, was sie waren, als Keppel sie fand: nicht mehr Gebrauchtes, gar Abfallmaterial.
        In der räumlichen Präsentation, die wie ein begehbarer visueller Essay wirkt, tritt das Display im Sinne eines Herstellens von Bezügen und Querverweisen stark hervor: als dreidimensionales Arrangement eines Werkes, das ursprünglich entlang des Rhythmus der Buchseiten komponiert wurde und das Einzelbild nahezu entmaterialisiert, bis Platz entsteht für neue Assoziationen. Dabei geht es immer auch um die Frage der Reproduktion, das Verschwinden des Originals in der Kopie und was das für Stadt und Architektur bedeutet, die sich ihrerseits in Zyklen von Bauen, Demontieren und Neubauen verändern, gleichzeitig aber akribisch darauf bedacht sind, ihre urbane Identität zu bewahren.
        Der Soundtrack zur Ausstellung besteht passenderweise aus einer Aufnahme des Verkehrslärms vom Pariser Boulevard périphérique – ein charakteristisches Geräuschkonglomerat des Autobahnrings und doch eine vertraute Kulisse fast jeder Großstadt. Das Allgemeine im vermeintlich Besonderen, auch das ist ein Thema in Keppels umherschweifender Aneignung und Abstraktion, die Erstaunliches zutage


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