Siegfried Mattl


Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien
Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien

Das Forschungsprojekt Film.Stadt.Wien, eine Kooperation des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, des Österreichischen Filmmuseums und der Künstler Gustav Deutsch und Hanna Schimek (D&S), widmete sich der Untersuchung des Erkenntnispotenzials sogenannter ephemerer Filme für urbanistische und filmkünstlerische Vorhaben. FilmemacherInnen, HistorikerInnen, MedienwissenschafterInnen und ArchivarInnen erarbeiteten in einem transdisziplinären Prozess Methoden und Begriffe, die zur Aufwertung dieser in der Forschung, der Archivpraxis und der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten filmischen Dokumente (Amateurfilme, Werbefilme, Auftragsfilme, Wochenschauberichte) führen sollen. Dafür wurden aus den umfangreichen Archivbeständen des Österreichischen Filmmuseums und des Wiener Stadt- und Landesarchivs / Filmsammlung media wien rund 200 für die Untersuchungsmethode repräsentative Filme ausgewählt, stadthistorisch und filmstilistisch analysiert, systematisch erschlossen und um Kontextmaterial ergänzt. Die Erschließung erfolgte nach Gesichtspunkten einer filmischen Topografie, die den Blick in Richtung der städtischen Strukturen und in Richtung der Verhältnisse zwischen dem gebauten Raum der Architektur, dem gelebten Raum der sozialen AkteurInnen sowie den räumlichen Repräsentationsformen lenkte. In der Verknüpfung von Sequenzen dieser ephemeren Filme entfaltet sich jener Wiener Stadtfilm, der gegen die Tradition des fiktionalen Wien-Filmes als die große Leerstelle empfunden wird. Die Hauptergebnisse dieser Arbeit sind in den Aufbau einer Datenbank eingeflossen und unter http://stadtfilm-wien.at online abrufbar. Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden im Rahmen von ur3anize 2012 – Internationales Festival für urbane Erkundungen (5. – 14. Oktober 2012) zu sehen sein. Details dazu gibt es ab August auf http://www.urbanize.at.

Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien
Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien

Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien
Still aus Vienne en Tramway , Foto: StadtFilmWien

Still aus Vienne en Tramway, Foto: StadtFilmWien
Still aus Vienne en Tramway, Foto: StadtFilmWien

Die Cinematic City liegt hinter uns. Wir steuern die Urban Cinematics an. Gemeint ist, wenn wir François Penz und Andong Lu folgen, den beiden Herausgebern eines gleichnamigen Sammelbandes, ein Wechsel – oder eine entschiedene Erweiterung – in den Erwartungen, die dem Film als städtischem Medium par excellence gelten. Der Film verspricht zum Analyseinstrument der sozial-räumlichen Beziehungen zu werden und die Stadtplanungsmethoden zu durchdringen. Nimmt man einen Stadtraum mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, verschiedenen Kamerawinkeln und zu unterschiedlichen Zeiten auf, so erhält man dichte Informationen über die Verstreuung und Diversität menschlicher Tätigkeiten, über Bewegungsmuster und zeitabhängige Rhythmen. Und man nähert sich damit auch den möglichen Wahrnehmungsformen der StadtbenutzerInnen an, die seit langem das Interesse am mental mapping stimuliert haben und doch, weil zu aufwändig für Routineerhebungen, wenig beobachtet werden.
Gegenüber den Diagrammen wie den perspektivischen Szenografien, die in der Urbanistik und Architektur zum Einsatz kommen, erweitert der Film als research tool das Wissen um Aspekte der sozialen Produktion von Raum. Das ist die Ausgangshypothese von Wowo Ding in Urban Cinematics (Ding 2011). Sie läuft allerdings auf die Verknüpfung von Film und Computer hinaus, die nötig ist, um aus den Bildern Daten und Muster zu generieren. Der technologische Bruch, der damit angesprochen wird, verdeckt aber nicht, dass wir mit dem vorgeschlagenen Aufnahmedispositiv zunächst beinahe zwingend zu den Sternstunden des frühen Films zurückkehren, und zu Stadtfilmen, noch ehe es einen Begriff davon gab. A Trip down Market Street ist das vielleicht bekannteste Beispiel dafür.[1] Der Miles Brothers Motion Picture Company reichte es im April 1906 hin, für einen mehr als 10 Minuten langen Promotion-Film über San Francisco die Kamera auf die Plattform eines Cable Car zu stellen, das von der 8. Straße zur Fährenstation fuhr.
Der in einer einzigen starren Einstellung verlaufende, der Linearität der Straße folgende Phantom Ride[2] lieferte Bilder, die gegenüber den etablierten Signifikaten der Stadt San Francisco vollständig gleichgültig blieben. Der reine Zufall entschied darüber, welche Personen, Situationen, Handlungen und Gegenstände zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort zu sehen waren: Jugendliche, die ihr eigenes Spiel erfinden, indem sie auf fahrende Autos aufspringen oder mit dem Cable Car um die Wette laufen; Spaziergänger; vollgepackte Pferdekarren, die riskante Überholmanöver versuchen; ein gemächlich schreitender polizeilicher Ordnungswächter, der um seinen imposanten uniformierten Körper eine Zone des Respekts und der Distanz hervor zu bringen scheint; Trolley-Busse mit Werbeaufschriften, die inmitten des ungeregelten Verkehrs die Straße queren; Eckensteher; Fußgänger, die wie Toreros heranpreschenden Wägen ausweichen; gestikulierende Gassenjungen als Zeitungsverkäufer; Frauen mit ihren Einkäufen; Lastenträger; Männer mit Arbeitsschürzen, in Anzug und weißem Hemd, in Uniformen; Frauen mit eleganten hellen Hüten oder von schweren schwarzen Kleidern umhüllt.
Dass man sich den Film wieder und wieder ansehen kann, hat nicht nur mit der tröstenden Wirkung der geschichtlichen Erinnerung zu tun. Das Staunen kommt wahrscheinlich mehr daher, dass uns die frühe Phantom Ride auf eine Verhärtung unserer Gewohnheiten aufmerksam macht: auf die diskrete Prägung unseres Denkens der Stadt im Umweg über den erzählten Raum des Spielfilms. Nichts weniger als die Irritation dieser Gewohnheit macht den Schritt von der Cinematic City zu den Urban Cinematics aus, also nicht die Verdrängung jener bewährten Konzepte, die den Film als Wahrnehmungslabor städtischer Moderne oder als sinnliche Erfahrung von Utopie und Dystopie (James Donald) behandeln, sondern deren Integration als spezifische, doch nicht hegemoniale Werke in die Definition des Stadt-Films.
A Trip down Market Street war kein singuläres Ereignis. Aus einer ganzen Serie von Phantom Rides in anderen Städten und Straßen ragt er deshalb hervor, weil ihn die Zerstörung San Franciscos durch das große Feuer und Erdbeben von 1906 fast unmittelbar in ein Monument verwandelte. Oder sogar in ein Menetekel für sektennahe Großstadtfeinde. Glücklicherweise blieb das dem Pathé-Frères-Film Vienne en Tramway[3] vom selben Jahr erspart. Wie in A Trip down Market Street genügt die fixe Verbindung von selbsttätiger Kamera und Fahrzeug, um einen Stadtfilm hervorzubringen. Konstante Einstellungsgröße, fixierter Kamerastandort und gleichbleibende Geschwindigkeit schaffen eine genuine Art von Beobachter/in einer städtischen Positivität, der/die die Bilder weniger konsumieren denn interpretieren muss. Keinem Objekt wird seitens der Kamera ein Privileg zugestanden. Auf der Fahrt über den Ring bleibt die Oper ein Gebäude wie jedes andere, nämlich ein den Straßenraum strukturierendes Volumen, wie überhaupt der Ring in diesem Film konträr zu seiner diskursiven Beschreibung als symbolischer Raum des bürgerlich-liberalen Machtanspruchs vielmehr als heterogenes Phänomen behandelt wird. (Die interne Logik der Transversale lädt eher dazu ein, das Tegetthoff-Denkmal am Praterstern und den dahinter sichtbar werdenden Circus Busch als signifikante Architekturen Wiens wahrzunehmen.) Wie schon in den anderen Fällen tritt die Multifunktionalität und Schichtung des Raumes hervor, die Überlagerungen von Arbeiten, Dienstleistungen, Geschwindigkeiten, wobei in diesem Beispiel die proletarische Präsenz durch Straßenbauarbeiter noch nachhaltiger zum Vorschein kommt; allerdings gemeinsam mit deren sinnfälliger Bindung an ihren Arbeitsort.
Das Verhältnis von Film und Stadt ist lange Zeit vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation verhandelt worden. Nicht zuletzt trug dazu bei, dass mit Film der fiktionale Spielfilm gemeint war, ergänzt durch Ausnahmeerscheinungen dokumentarischer Stadtporträts wie Berlin, die Sinfonie der Großstadt von Walther Ruttmann. Michel de Certeau hat – offensichtlich mit Blick auf diesen Film-Korpus – kritisch eingewandt, dass das meiste, was an Stadtdarstellung für den Film reklamiert worden ist, schon von den traditionellen Künsten erfunden worden war, z. B. das panoptische Regime: »Die Maler erfanden gleichzeitig das Überfliegen der Stadt und den Panoramablick, der dadurch möglich wurde. (…) Hat sich daran etwas geändert, seitdem technische Prozeduren eine ›alles sehende Macht‹ organisiert haben?« Oder anders gesagt: Der Film fügt sich ein in die Bemühungen der Künste, die Stadt in einen transparenten Text zu verwandeln und lesbar zu machen.
Dokumente wie Market Street und Vienne en Tramway zeigen, dass es auch eine rohe Form gibt, in der sich die Eigenschaften der Stadt nicht abbilden, sondern verdoppeln. Die Tiefenschärfe der frühen Kameratechnik zeichnete mit dafür verantwortlich, dass keines der erfassten Objekte den Fokus auf sich ziehen kann, sondern sich den Raum mit der Präsenz vieler anderer teilen muss, zu denen es in verschiedenen Momenten unterschiedliche Beziehungen – oder gar keine – unterhält (vgl. Büttner & Dewald 2002, S. 88ff.). Hier gibt es nicht den einen Text der Stadt, sondern es regiert die hartnäckige Opposition der gegeneinander oftmals indifferenten Tätigkeiten und Bewegungen, denen man jeweils wieder ihren Eigensinn zu entlocken versucht ist und die dazu stimulieren, die pure Koinzidenz als urbane Kraft zu entdecken. Ähnliche Phänomene, wenn auch auf anderer als technischer Basis, drängen aus den Massen von Amateuraufnahmen, Werbefilmen und filmischen Hybriden hervor, die sich einer Genre-Bezeichnung verweigern.
Im Anschluss an Wowo Ding ist es verlockend, sich vorzustellen, solche Dokumente einer computergenerierten Variation von Tempo, Kamerawinkel, Aufnahmezeit zu unterwerfen und darauf eine neue Abteilung des urbanen Archivs zu begründen. Dies scheint für absehbare Zeit leider ein entropisches Unter-nehmen zu bleiben. In der Zwischenzeit können wir uns aber anschicken, die filmischen Dokumente zur Stadt neu zu gruppieren und bewusst das (gemessen am Modell des Spielfilms) Unfertige, das Missratene, Sequenzen ohne filmdramaturgischen Sinn (oder außerhalb davon) aufzusuchen und daraus hunderte, tausende imaginäre Stadtfilme entstehen zu sehen.

Fußnoten:


  1. Verfügbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=KJsAdXb4MQc&feature=related (Stand 15. 5. 2012) ↩︎

  2. Als Phantom Ride wird ein Genre der frühen Filmgeschichte bezeichnet, das um 1900 besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten populär war. Zur Erstellung der Phantom Rides wurde eine Filmkamera an die Spitze einer Lokomotive montiert, welche die Fahrt als Point-of-View-Shot aufzeichnete. Die dynamischen Präsentationen von Landschaften in den Phantom Rides waren die ersten Beispiele für Kamerafahrten in der Filmgeschichte. Als Vorläufer der Reisefilme stellen sie eine Vorform der Dokumentarfilme dar. (Quelle: Wikipedia) ↩︎

  3. Verfügbar unter: http://www.stadtfilm-wien.at (Stand 15. 5. 2012) ↩︎


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