Susanne Karr


Die Entdeckung des Hörens als Kontrast-programm zur ständigen visuellen Überfrachtung und zur Verfeinerung der Wahrnehmungskanäle findet auch in der Stadt-Vermittlung ihren Niederschlag: Ein Projekt mit sieben Audio-Walks, also akustisch begleiteten Stadt-Spaziergängen namens AWWA, bietet Stadt-Annäherungen fern von jeglichem Tourismus-Kitsch. Initiert von Petra Maier wurde das Projekt in Kooperation mit Wiener Kunstschaffenden realisiert. Die Vienna Audio Walks wollen keine klassischen Stadtführungen sein. Viel zu speziell und detailgetreu einerseits, andererseits zu kursorisch, um einem klassischen touristischen Anspruch zu genügen, dürfen sie sich als Kunstprojekt die Freiheit nehmen, persönlichen Interessen und Vorlieben zu huldigen. Die höchst unterschiedlichen Spaziergänge wurden von sieben KünstlerInnen bzw. Teams ausgearbeitet und bieten allein von der Themenwahl sehr subjektive Einblicke ins Stadtleben und -Erleben. Wie stellt man es nun an, in den Genuss der urbanen Fremdwahrnehmung zu kommen? Im Architekturzentrum hinterlegt man einen Ausweis und erhält dafür einen mp3-player inklusive Headset und einen Faltplan: mit sieben wählbaren Routen, entlang derer man sich akustisch begleiten lassen kann.

N°1 mit dem Titel Ring und Linie - Anarchie in Ottakring von Sabine Bitter und Helmut Weber widmet sich dem konfliktreichen Verhältnis von Innenstadt und Vorstadt, das 1911 in Krawallen kulminierte, und führt durch den 16. Bezirk: Eine Zeitreise, schön wie die Gründerzeitfassaden und traurig wie viele Lebensläufe der damals hier dicht gedrängt lebenden ArbeiterInnen. Zum schönen äußeren Er-scheinungsbild der Vorstadt-Häuser haben die ProjektgestalterInnen die so stringent wie zynisch anmutende These formuliert, die schöne Fassade sollte den BewohnerInnen vortäuschen, es gäbe zwischen ihnen und dem Bürgertum nur graduelle Unterschiede, die überbrückbar seien. Mit einer solcherart „sozialen Narkose“ sei die Passivität der Benachteiligten angestrebt worden – letztlich nicht immer mit Erfolg, wie die Aufstände beweisen. In diesem unkonventionell aufbereiteten Kapitel Stadtgeschichte wird Vergangenes und Gegenwärtiges nebeneinander gestellt, Wandel und Fortdauer mit einem Fragezeichen versehen. Die Fassaden sind großteils gleich geblieben – doch wie rasant sich das städtische Leben gewandelt hat!
N°2 Taxi? No! folgt einer typischen Nachteulen-Tour vom 7. in den 5. Bezirk und wird von Bernhard Fleischmann als „potenzieller Soundtrack für einen Heimweg zu Fuß bei Nacht“ bezeichnet.
N°3 Kein Ort, gestaltet von Kenn Mouritzen, scheint zwar statisch an eine Parkbank gebunden, besucht imaginär aber durchaus reale Orte in der Stadt, und behauptet, dass man immer an verschiedenen Orten gleichzeitig ist.
Auf Route N°4 geht man mit Andreas Rumpfhuber der Frage Was kostet die Stadt? nach. Typische „herumstehende“ oder „herumhängende“ Objekte wie Fahrradständer, Werbeleuchtschriften etc. werden mit gedachten Preispickerln versehen, dazu wird im Bauhaus-Werbe-Jargon getextet. Städtisches Inventar stellt sich plötzlich in den Vordergrund und bietet sich an – willkommen im Supermarkt.
N°5 Gewinn und Verlust. Wohnen in einem Haus gibt sich literarisch: Peter Waterhouse beschreibt sein Wohnhaus und dessen BesucherInnen auf der Suche nach der unsichtbaren und doch wirksamen Schönheit – er mutmaßt gar, der Architekt habe willentlich Nicht-Attraktionen gebaut...
N°6 von Wendy und Jim nennt sich Catwalk: mit GPS-Navigator-Stimme und -Aus-sprache wird die vorgeschlagene Route von der Neubaugasse zum Café Demel mit Hinweisen auf Schaufenster-Sehenswürdigkeiten etc. kommentiert. Das ganze in einem, verglichen mit der üblichen Schrittgeschwindigkeit Wiens, etwas beschleunigten Tempo.
N°7 Leerstellen im Superblock von Michael Zinganel, beschäftigt sich mit den Gemeinschaftseinrichtungen und Wohnanlagen des Roten Wien mit dem klingenden Beinamen „Ringstraße des Proletariats“.

Die sieben Routen bieten verschiedene Stimmungen, geben sich unterhaltsam, manchmal lehrreich, teilweise berührend. Der Einsatz von Audio-Guides ermöglicht ein sehr intimes Erleben: Die fremde Stimme schleicht sich in die eigene Wahrnehmung ein. Wie ein Filter legen sich die Fremdwahrnehmungen – speziell bei zeitverschobenen Spaziergängen – über die aktuellen eigenen Eindrücke. Die Stadt-Elemente erlangen eine gewisse Kulissenhaftigkeit, sie sind mit einem Mal „bespielbar“. Luxuriös muten diese Ausflugsmöglichkeiten in fremde Köpfe und ferne Zeiten an, dabei braucht man nur Zeit und Aufmerksamkeit – die Bereitschaft, zuzuhören. Die Audio-Walks gibt es auch im Internet.

Im Laufe der letzten Monate wurden in Wien noch weitere Stadt-Spaziergänge angeboten: Wer sich vom Geist des Pilgerns angesprochen fühlte, hatte an vier Wochenenden die Möglichkeit, mit ähnlich Gesinnten thematische Pilgerwege oder -fahrten zu unternehmen, die zu verschiedenen „Wien-Themen“ gestaltet wurden und mit Versammlung und „Pilgermahl“ endeten. „Ein urban pilgrim ist jemand, der Orte, Bilder und Momente sucht, die charakteristisch für eine Stadt sind. Er möchte sich dem unterbewussten Wissen einer Stadt nähern“, heißt es im Text der VeranstalterInnen. Das Blumberg als Ausstellungsraum und Archiv mit integriertem Wohnzimmer, überdimensioniertem Stadtplan, Videos, Befragungsergebnissen usw. wurde zur Aufzeichnungsstätte des Projektverlaufes. Das Projekt der kanadisch-deutschen Künstlerin Angela Dorrer wird nach-einander in verschiedenen Städten organisiert, jeweils in Kooperation mit KünstlerInnen und Kunstinstitutionen vor Ort, in Wien mit dem Az W, Soho in Ottakring, Blumberg und anderen.

Auch das Festwochen-Projekt mis guide bot Stadterkundungen der unorthodoxen Art an: Das englische KünstlerInnen-kollektiv Wrights & Sites hatte bereits im Winter Wien-KennerInnen und Künstler-Innen zur Kooperation aufgerufen und präsentierte im Juni die so entstandenen Stadtverführungen. Ihr Konzept gilt als innovativer Input zum experimentellen Tourismus.

Informationen und Downloads zu den drei vorgestellten Projekten:

www.awwa.at
www.urbanpilgrims.org
www.mis-guide.com


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