Jochen Becker

Jochen Becker ist Autor, Kurator und Dozent in Berlin. Er ist Mitbegründer von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten.


›Friede den Hütten!‹, fordert das Baukollektiv Constructlab in seinem aktuellen Buch Convivial Ground. Stories from Collaborative Spatial Practices. Doch was ist mit den Palästen?
        Urbane Praxis nennt sich eine Initiative, die das Recht auf Stadt mit Mitteln der Künste, Gestaltung, Planung und Aktion erstreitet. Das in Berlin sowie Frankreich, Belgien und der Schweiz ansässige Contructlab ist Teil dieser Initiative und »als transnationales Netzwerk, das sich mit Ge­meinschaften durch Architektur und Design beschäftigt« seit über zwanzig Jahren vom Mittelmeerraum über mitteldeutsche Provinzstädtchen bis zu den Architekturbiennalen in Chicago oder gerade in Venedig aktiv. Dort wurde Constructlab gebeten, ein partizipatives Projekt zu entwickeln, das Themen wie Nachbarschaftspflege, Reparatur und Instandhaltung in den Mittelpunkt stellt. Als »Haus­versammlung« wurde in einem von Besetzer:innen geprägten Viertel von Giudecca die Gemeinschaftsinfrastruktur auf Dauer durch mobile Wägen ergänzt, die als Küche, Siebdruckstation oder Werkstatt dienen können.
        Constructlab schlägt ihre Bauten auf, wo sich Gelegenheiten bieten. Das flottierende Netzwerk von Designer-Builders und Kulturarbeiter:innen wird von Neuankommenden unterstützt. »Wir alle treffen Entscheidungen. Wir beobachten uns gegenseitig beim Improvisieren. (…) Diese Stadt werden wir gemeinsam gebaut haben.« Ihr aktuelles Handbuch Convivial Ground mit kurzen Projektbeschreibungen, anekdotischen Erinnerungen, Selbst-Interviews und ausführlichen Bildstrecken kommt mit robustem Umschlag und erzählt anschaulich sowie lebendig »Geschichten von kollaborativen räumlichen Praktiken«. Der Titel bezieht sich auf das 2013 von französischen Intellektuellen verfasste Convivialist Manifesto. Der inzwischen vom deutschen Bundesbildungsministerium vertriebene Text sucht in einer Mischung aus Wachstumskritik, munterer Tischgesellschaft und Aufruf zum Gabentausch ein gutes Zusammen-Leben (con-vivere). Er bezieht sich auf Ivan Illichs 1973 erschienenes Buch Tools for Conviviality (deutsch: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik) als Heilmittel gegen radikalen Neoliberalismus und eine individualisierte Gesellschaft.
        »To Gather«, das »Zusammenkommen« als politischer Akt und »Vorbedingung für Austausch und Debatte«, ist immer auch Beziehungsarbeit. Zusammen Arbeiten und Bauen, Leben und Wohnen, gut Essen wie auch Spaß haben wird großgeschrieben. Stuhlkreis und Agora, runder Tisch oder Lagerfeuer sind dafür wiederkehrende Muster auf den zahlreichen Farbfotos und Skizzen. Teilen ohne Hierarchien, so die Publikation, stelle sich beispielsweise am gemeinsamen Essenstisch quasi von selbst ein. Flache Hierarchien werden eingefordert, aber es gibt schon länger aktive Tutor:innen für Spezialaufgaben oder ein klar umgrenztes Herausgeber:innenteam des Buchs (die französische Architektin Joanne Pouzenc, der Berliner Gestalter und Zimmermann Alex Römer sowie der niederländische Grafikdesigner und aktuelle Buchgestalter Peter Zuiderwijk).
        Easy- und NightJetter sind auf Grand Tour mit zusammengezimmerten Kanus (Fribourg-sur-Mer), Euro-Englisch erklingt im Orchester aus Stichsägen und Akkuschraubern, kein Regenschauer trübt die Bilder, und nur einmal liegt Schnee: Die Fotostrecken zeigen Paletten und Zeltdächer, erfindungsreich unter die Schuhe geschnallte Stempel, Flip-Flops aus Holzplatten oder alten Autoreifen, einen LKW-Anhänger als Werkzeugwagen mit Küche und Dachbodenbettlandschaft. Der Pizzaofen wird mit Restholz befeuert und die ausgemusterten Schultafeln zu Fassaden umgewandelt: »Wir arbeiten mit der Arbeit der Anderen«. Im Unterschied zu Bier, Wasser oder Espresso (»Kaffee ist ein Werkzeug«) spiele Geld als Treibstoff nur am Rand eine Rolle: Es gibt kommunale oder kulturelle Gelder von gastgebenden Institutionen, und damit muss gehaushaltet werden. Erst einmal wird eine Stützkonstruktion gebaut, in der die Aufbauenden selbst nächtigen und sich verpflegen können. Hierbei verschmilzt Leben und Arbeiten, und schon bald sei man Teil der lokalen Bevölkerung. Doch dann ist das Projekt üblicherweise wieder vorbei, alle gehen ihrer Wege oder finden sich als Kerngruppe beim nächsten Projekt ein.
        Ihre Präsenz ist auf Zeit und hinterlässt im Guten (Ökologie) wie im Schlechten (Gesellschaftspolitik) kaum Spuren. Interessanterweise sieht man nur Bilder vom Aufbau und der gemeinschaftlichen Nutzung – doch was passiert danach? Übernimmt der Alltag des Ortes die Konstrukte, oder werden die Bauten niedergelegt oder abtransportiert, das Holz verfeuert und der Rest weggeworfen? Wie genau sieht das ›re-use‹ der ›upcycled materials‹ aus?
        Als eine Frage der zirkulären Logistik werden wiederverwendete Materialien, Lowtech, einfache Lösungen, Zugänglichkeit und Verlaufsoffenheit immer wieder angesprochen. Doch was tun, wenn plötzlich die nachwachsende Ressource Holz zur Mangelware wird? Auf dem Schwarzmarkt kostete eine Planke plötzlich mindestens zwei Bier und eine Umarmung. Zu sehen bekommen wir jedoch vor allem Endproduktfotos, Aufbauakte und Gruppendynamiken. Und zumeist wirkt das blendend helle Holz wie direkt aus dem Sägewerk.
        Leider bleibt es in den erlebnisorientierten Erörterungen allzu oft bei schönen Worten, ohne tiefer in Widersprüchlichkeiten einzutauchen. Viel Augenmerk wird aufs Machen und Bauen, Leben und Essen geworfen. Wer einmal dabei war, weiß, wie toll das alles sein kann, möglichst nahe am See oder dem Meer, und doch lauert der Campingkoller um die Ecke. Gefragt sind Vielfachbegabungen, Hartnäckigkeit und soziale Kompetenz – sozusagen das Schweizer Armeemesser der ›Urbanen Praxis‹.
        Ich muss aufpassen, nicht in eine wagenknecht-hafte Sauertöpfigkeit zu verfallen, wenn insbesondere gut ausgebildete Menschen ihre liebenswürdige Jugendfreizeit verbringen, Demos ohne Worte veranstalten und sich nächtelang die Köpfe heißreden. Ganz sicher reift hier eine bessere Gesellschaft, allerdings die der unausgesprochenen Privilegien. Ein im Buch groß gesetztes Zitat des kritischen Architekten Eyal Weizmann markiert Partizipation als »eine Reihe von Konflikten, Verhandlungen, Manövern und Betrügereien zwischen und innerhalb einer Vielzahl von Akteuren«, doch beherzt wird diese nüchterne Analyse kaum; und irgendwann nervt die ungebrochen gute Laune der Sommerfrischen. Das schlussendlich herauszufinden ist ein Verdienst des Buches.
        Der Stichwortgeber Ivan Illich war in engem Kontakt mit John F. C. Turner, der als Pionier des informellen Selbsthilfe-Bauens in Armutsquartieren von Peru gilt. Der ›international informal style‹ durchzieht in seiner Dringlichkeit und Not den Globalen Süden, die Armutsgürtel oder den weniger regulierten Mittelmeerraum, und findet seinen zumindest formalen Widerhall in den temporären urbanen Praktiken im Norden. Wie ›upcycling‹ zur ästhetischen und sozialen Reife getrieben werden kann, zeigt das 1993 gegründete Rural Studio, ein Design-Build-Architecture-Lehrgang der US-amerikanischen Auburn University. Hierbei lernen Architektur-Studierende, soziale Verantwortung zu übernehmen. Dabei stellen sie gute Häuser und Gebäude für arme Gemeinden im ländlichen ›Black Belt‹ Alabamas nahezu kostenneutral zur Verfügung.
        »Aber die Holzschiffe / Waren nur ein Hippie-Traum«, sang Neil Young 1986 in seinem klaustrophobischen Hippie-Dream-Song und erinnert an die Flower-Power-Toten, welche in Woodstock ihre Arche Noah gesucht hatten. Die geselligen Baustellen der Urbanen Praxis konstruieren als wunderbares Projekt des Miteinanderseins den Frieden der Hütten. Doch was ist mit dem Krieg gegen die Paläste, den der Schriftsteller Georg Büchner im revolutionären Hessischen Landboten einforderte? Eher auf Konflikt und Widerspruch gebürstet kündigt sich da die kommende Ausstellung Protestarchitektur – Barrikaden, Camps, Superkleber an und erkundet Barrikaden der Revolution von 1848, Pfahlbauten der Anti-Atomkraft-Bewegung in Gorleben, Zeltstädte des Arabischen Frühlings oder des Maidan in Kiew, Baumhäuser im Hambacher und im Dannenröder Forst oder Barrikaden in Hongkong. Auch das kann – in aller Widersprüchlichkeit – ›Urbane Praxis‹ sein.


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