» Texte / Trotzdem - »Theater als Chance, das Leben wirklich zu sehen«

Ursula Maria Probst


Wie darf öffentlicher Raum benützt werden und welche Interventionen sind trotz Covid-19-Einschränkungen möglich? Die ohne Publikum via Livestream und ORF2 ausgestrahlte Intervention von Florentine Holzinger am Wiener Rathausplatz zur Eröffnung der Wiener Festwochen am 15. Mai 2021 begeisterte durch das orchestrierte Konzert von Soap&Skin und irritierte durch die dystopische Inszenierung der Choreografie, in der 20 sich selbst optimierende nackte Frauenkörper über einen Autofuhrpark kletterten. Bezugspunkte bildeten historisch die Leistungsschau der Gewerbe aus dem Jahr 1929 und aus aktueller Sicht die zunehmende Hybridisierung von Mensch und Maschine, Stunts und Crashtests. Ein Festzug, der durch die Körperästhetik eines Fitnessstudios weniger wie eine Parade als eine slicke Leistungsschau wirkte und in feministischen Zirkeln Kontroversen provozierte.
        Ansonsten lief es bei den Festwochen 2021 – die aufgrund ihrer über die Monate Mai/Juni und August/September verteilten Veranstaltungen als Festmonate angekündigt wurden – nach Plan, sodass die weiteren Veranstaltungen mit Publikumsbeteiligung stattfinden konnten. Bespielt wurden neben Hallen im Museumsquartier, wo als Kooperation mit der Kunsthalle Wien die Dekolonialisierungsfragen behandelnde Ausstellung And if I devoted my life to one of its feathers stattfand, Spielorte außerhalb des Stadtzentrums wie das Jugendstiltheater in Steinhof, der Karl-Marx-Hof in Heiligenstadt oder das Brut in der Nordbahnstraße.
        Dass die Realitäten, in welchen wir leben, immer härter werden, spiegelt sich auch in der Programmierung wider, die durch internationale Koproduktionen Weltpremieren von Stücken wie Quasi (Azade Shahmiri), Heatbreaking Final (Tim Etchells, Aisha Orazbayeva), Burt Turrido. An Opera (Nature Theater of Oklahoma), Lavagem (Alice Ripoll / Cia REC), Hullo, Bu-Bye, Koko, Come in (Koleka Putuma), Sad Sam Matthäus (Matija Ferlin), Four Days in September (The Missing Comrade) (Wichaya Artamat / For What Theatre) nach Wien brachte.
        Unter dem Motto Gesellschaftsspiele. The Art of Assembly VII. Agonistic Gatherings trafen der Soziologe und Philosoph Didier Eribon und die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe unter der Moderation von Florian Malzacher zu einer launigen Diskussion darüber, wie viel Agonimus soziale Bewegungen aushalten, im freundschaftlichen Schlagabtausch aufeinander. Auf die Frage, ob dem Theater dabei die Funktion von Laboratorien zukommt und wie das System konkret attackiert werden könnte, gingen sie allerdings nicht ein.
        Radikal gegen populistische und faschistische Strömungen wendet sich das Stück Catarina e a beleza de matar fascistas des Regisseurs Tiago Rodrigues. Hierzulande niemandem bekannt, gilt Catarina Eufémia, die sich in den 1950er-Jahren als Sprecherin der Landarbeiter*innen für gerechtere Löhne einsetzte und von einem Polizeikommandanten erschossen wurde, in Portugal als Ikone des Widerstands, die in zahlreichen Kunstwerken und von der Autorin Sophia de Mello Breyner Andresen verewigt wurde. Das Stück Catarina oder von der Schönheit, Faschisten zu töten basiert auf der fiktiven Geschichte einer Familie, die alljährlich zusammentrifft, um ein Ritual zu begehen: Die Tötung eines Faschisten durch die Hand eines heranwachsenden weiblichen Familienmitgliedes. Ausgehend von diesem Initiationsritus entfacht sich im Stück eine heftige Diskussion über die Motive dieses Mordes und ob diese Hinrichtung durch das Verfolgen eines höheren Zieles gerechtfertigt werden kann. Die intensive Auseinandersetzung mit Meinungsfreiheit, Demokratie und Rechtspopulismus gelangt am Ende des Stückes zu einem fulminanten Höhepunkt. Der gekidnappte Politiker überlebt und bombardiert das Publikum mit einer rechtspopulistischen Rede, bis dieses schließlich beginnt, ihn auszubuhen oder fluchtartig den Saal verlässt.
        Wie das Leben nicht nur in Zeiten der Pandemie aus dem Ruder geraten kann und vermehrt Menschen in Armut leben und mit verschärften Spiralen von Ungerechtigkeiten zu kämpfen haben, behandelt der erfolgreiche britische Regisseur und Dramatiker Alexander Zeldin in seinen Produktionen Faith, Hope and Charity aus der Theatertrilogie The Inequalities sowie Love. Das Leben wirklich zu sehen und sich in das Leben von Refugees und sozial Benachteiligten hineinzubegeben, die in Sozialeinrichtungen wie Wohnheimen oder Charity-Kantinen notdürftig versorgt werden und sich in Warteposition auf ein besseres Leben befinden, gerät in Zeldins Stücken (das Bühnbild ist der kargen Architektur sozialer Einrichtungen nachempfunden) nicht zu einem Sozialvoyeurismus. Die enorme Bereitschaft der involvierten Protagonist*innen (Lai*innen und Schauspieler*innen), uns an ihren persönlichen Geschichten von Isolation und Unsicherheit teilhaben zu lassen, reißt uns mit und zwingt uns dazu, auch unser Leben anders zu sehen. Alexandra Zeldins Theater unterscheidet sich vom Dokumentar- und Polittheater durch den Prozess der Entstehung, der sich wie in Love über einen längeren Zeitraum spannt, und durch den sich die Bedingungen, unter welchen die Geschichten, das Gewebe von Leben, die sozialen, politischen Realitäten, der Kampf des Einzelnen gegen die Härte des Systems, die dadurch ausgelösten Qualen und Verzweiflung verdichten. Dafür wird das Publikum selbst auch direkt auf die Bühne geholt.
        Weiter geht es mit partizipatorischem Open Air Theater. Der Austragungsort von Letters von Attica von Begüm Erciyas ist eine Wendeltreppe am Donaukanal. Das Publikum ist aufgefordert, sich entlang der hinabführenden Stufen aufzustellen und sich wie in einem Stille-Post-Spiel gegenseitig den Text der Briefe ins Ohr (unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes) zu flüstern. Der so gesprochene Text gelangt durch 50 Münder und wird durch die in der Weitergabe des Textes geforderten Empathie zu einer persönlichen Erfahrung, die sich an ein Gegenüber adressiert. Der Text ist eine Neuzusammensetzung von Passagen aus Briefen von Samuel Melville, die dieser zwischen 1969 und 1971 im Gefängnis schrieb. 1968 begann Melville gemeinsam mit der Journalistin Jane Alpert unter dem Namen Melville Collective gegen ethnische und geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen, die Missachtung von Bürger*innenrechten, gegen die zunehmende Macht von Konzernen und den achtlosen Umgang mit der Umwelt aktiv zu werden. 1969 verübte Melville als Protest acht Bombenanschläge auf Regierungs- und Bürogebäude in New York City. Um keine Menschenleben zu gefährden, erfolgten diese spätnachts. Das Sicherheitspersonal wurde telefonisch vorgewarnt. Nach seiner Festnahme wurde er zu 18 Jahren Haft im Hochsicherheitstrakt Attica im Westen von New York verurteilt, dort schloss er sich verschiedenen Anführer*innen aus den Black und Latino Communitys an. Er rief die Untergrundzeitung Iced Pig ins Leben und vereinigte konkurrierende Lager im Kampf um bessere Haftbedingungen und gegen die Zensur des Postverkehrs. Bei einem Aufstand im Attica-Gefängnis 1971 wurde er erschossen. Am Tag zuvor sagte er zu den Verhandlungsführern: »Was auch immer passiert, sag allen, dass die Menschen hier so geeint sind, wie ich früher einmal gehofft habe, dass sie es draußen sein können.«
        Auch die brasilianische Schauspielerin und Regisseurin Gabriela Carneiro de Cunhas bezieht in ihrer techno-schamanistischen Performance Altamira 2042 das Publikum direkt ein und teilt ihm vor Spielbeginn spezielle Rollen zu. So soll es den durch ein Dammbau-Projekt bedrohten Fluss Rio Xingu verkörpern. Altamira ist eine Stadt mit 115.000 Einwohner*innen in Pará in der Region Amazonas. Seit 2013 bereist Gabriela Carneiro regelmäßig für ihr künstlerisches Forschungsprojekt Margens. On Rivers. Buiúnas and Fireflies die Amazonasgebiete, arbeitet mit den Buiúnas-Frauen, die an den Ufern leben, zusammen und vernetzt sich mit Widerstandskämpfer*innen im ganzen Land. Altamira 2042 ist ein Aufruf, gegen die Zerstörung des Regenwaldes und die zerstörerischen Eingriffe wie die Aufstauung des Rio Xingu, einem der großen Nebenflüsse des Amazonas für das Belo-Monte-Dammbau-Projekt und die Gefährdung der Lebensräume indigener Gruppen zu protestieren und aktiv zu werden. Carneiro de Cunha integriert in ihre performative Installation und ihre techno-schamanistischen Rituale bunt flimmernde LED-Lautsprecher, wie sie vor Ort für Partys verwendet werden. Aus ihnen dringen die Stimmen der indigenen Völker Araweté und Juruna, der Anführer*innen sozialer Bewegungen wie die Stimme von Raimunda Gomes da Silva, der Bewohner*innen, Mitarbeiter*innen der Regierung und von Sozial- und Umweltinstitutionen, von Vertriebenen und Verstorbenen, das Rauschen des Wassers, Stimmen von Tieren und Pflanzen und der zerstörerische Lärm der Maschinen. Ein hybrider Raum, in welchem aktivistischer Kampf und mythologisch-spirituelle Erzählung aufeinandertreffen, entsteht. Das Rauschen des Wassers wird vom Lärm der Maschinen übertönt. Das mitwirkende Publikum ist aufgefordert, in einem Befreiungsschlag mit Hämmern symbolisch den Staudamm zu zerstören, dem Fluss eine Stimme zu geben.
        Die Uraufführung des neuen Stückes Quasi der Iranerin Azade Shahmiri lässt in eine andere Art des Geschichtenerzählens eintauchen. Das Stück basiert auf einem unvollendeten Film des Regisseurs Hamid Jafari – aufgenommen 2001 in einem Teheraner Kaffeehaus. In Shamiris Inszenierung schildern drei Menschen in fragmentarischen Erzählungen von ihrem Leben im heutigen Iran. Was passiert mit Geschichten, die kein Ende haben? Worin liegt ihre Substanz? Wehren sie sich dagegen, abgeschlossen zu werden? »Es passiert immer das Gegenteil vom Vorhergesehenen. Ich fange von vorne an. Ganz von Anfang an. Dann langsam …Wir gehen dann langsam vor. So langsam wie jetzt. So. Okay? Ganz langsam«, lautet das Intro des Einführungstextes. Die Interaktionen der Körper der Schauspieler*innen mit Gegenständen, eingespielten Bild- und Tonausschnitten, als Abfolgen von Handlungssträngen formen Realitäten, die in der nächsten Sekunde verworfen werden und mit der Schaffung eines anderen Theaters und dem Potenzial des Unvollendeten als Ausdruck des Widerstandes operieren. Erfahrungen der durch die Pandemie bewirkten Isolation und Einsamkeit und die Angst vor dem Kontakt mit anderen, lassen Quasi zu einem Ausdruck der Dringlichkeit werden für eine gemeinsame Erfahrung. Insofern empfindet Azade Shahmiri Quasi als einen gemeinsamen Tanz.
        Heartbreaking Final von Tim Etchells und Aisha Orazbayeva bildete den Abschluss der Festmonate und endete mit der Botschaft: »Ich suche Anschluss. Ich denke über Alternativen nach. Ich höre Sachen. Ich mache unpassende Bemerkungen … Ich zaubere Sachen aus dem Hut.«


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