» Texte / Über die Harmlosigkeit von Fahrrädern (?)

Jonas Marosi


Velocipedophil, falls diese Wortkreation erlaubt ist, ist Alexander Klose allemal. Ich würde sogar behaupten, der O´Brian'schen Molekül-Rechnung nach ist er mindestens zu 65 % Fahrrad. Seinen eigenen Angaben zufolge ist sein Buch Rasende Flaneure Teil eines multimedialen bike´n phile-Projektes, das mit einer zweieinhalbmonatigen Fahrradtour begann und der Thesenfindung seiner Magisterarbeit diente. Die überarbeitete Fassung dieser theoretischen Auseinandersetzung mit dem Fortbewegungsmittel Fahrrad um die Jahrhundertwende (1900) ist im Lit Verlag Münster erhältlich.
Die Geschichte des Fahrrads im Kontext der Mechanisierung – so könnte eine knappe inhaltliche Beschreibung des Buches lauten. In starker inhaltlicher wie auch formaler Anlehnung an die Geschichte der Eisenbahnreise versucht sich Klose in einer Fortsetzung jener Technik- und Kulturgeschichte, die von der Industrialisierung von Raum und Zeit durch neue Fortbewegungsmittel erzählt. Die meiste Zeit mit Erfolg. Kulturgeschichtlich lässt sich diese Geschichte des Fahrradfahrens, wenn man der Argumentation Kloses folgt, in zwei Richtungen lesen: Einerseits in die Vergangenheit gerichtet, als reaktionäre Bewegung zur Industrialisierung und als Wiedergewinnung von Bewegung, andererseits auf die Gegenwart bezogen, als Vorzeichen und Fortsetzung einer konservativen technizistischen Moderne und als Verlust eines authentischen Bewegungsraums. Die Ambivalenz dieser beiden Ansätze bleibt unreduzierbar, wie auch schon der Titel des Buches anzudeuten weiß.
Die Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens (so der Untertitel des Buches) beginnt mit Ausführungen zur Ideologie des neuen Fortbewegungsmittels: Cyclisation ist das von Bertz geprägte Stichwort, das im Velociped den Beginn einer neuen Bewegung sah, die eine „Wiedervermählung des (modernen) Stadtmenschen mit seiner (industrialisierten) Natur“ ermöglichte. Das Fahrrad als reaktionärer Widersacher der Eisenbahn. Während Letztere den (natürlichen) Raum tötet und den (Stadt-)Raum verdichtet, wirkt das Fahrrad in die entgegengesetzte Richtung. Das Fahrradfahren ist diejenige Bewegung, die den verlorenen Bezug zum Naturraum wieder herzustellen weiß, aber auch das Mittel, das eine adäquate Fortbewegung und Orientierung im industriell verdichteten Stadtraum ermöglicht.
Mit historischen Verweisen auf Zola, Sachs, Bertz und andere interpretiert Klose das Fahrradfahren einführend als neue Religion und als romantische Gegenbewegung zur Mechanisierung. Auf der anderen Seite der Jahreszahl 1900 beschreibt Klose das Velociped als ersten Prototyp einer solipsistischen Geschwindigkeitsmaschine, die eigentlich nur den Zweck verfolgt, die industrialisierte Gegenwart für einige bewegungsintensive Momente verlassen zu können. Auch wenn es mit Muskelkraft betrieben wird, stellt das Fahrrad im Vorfeld der Moderne ein wesentliches Moment derselben zur Verfügung – nämlich eine selbst induzierte Beschleunigung der Wahrnehmung, eine individuelle Verfügbarkeit von Geschwindigkeit, wie sie später für das Automobil grundlegend und konstitutiv sein wird. (Schließlich verbindet die zwei Technologien, dass es jederzeit möglich ist, stehen zu bleiben, und das ist es auch, was sie von der Eisenbahn unterscheidet.)
Das Fahrrad als (vorbereitendes) Entwicklungsmoment in einem katastrophalen Verlauf der Modernisierung – natürlich dürfen an dieser Stelle Verweise in Richtung Virilio, Marinetti, aber auch Sloterdijk nicht fehlen. Das muskelbetriebene Fortbewegungsmittel wird zum Vorreiter einer Bewegung, der das Motiv der (Gegenwarts-)Flucht vorgeworfen werden kann. Die vorerst befreiende Geschwindigkeit mündet schließlich in eine Vereinnahmung des menschlichen Lebens- und Bewegungsraums durch Technologien. Klose verfolgt diese Vereinnahmung bis zur militanten Geometrie von Autobahnen, Verkehrsknoten und Mc-Drives. In dieser Interpretation steht das Fahrrad nicht mehr für die Versöhnung des Menschen mit der Natur, sondern für den Beginn eines neuen Abschnitts der Technik- und Kulturgeschichte, die von einer Vermählung des Menschen mit den Technologien des 20. Jahrhunderts erzählt.
Wenn Schivelbusch das Vorbild ist, dürfen natürlich auch Querverweise zu optischen Apparaturen und wahrnehmungstheoretische Exkurse nicht fehlen. Panoramatisch, raumentfremdend und distanzierend die Eisenbahn, kaleidoskopisch, im industrialisierten Raum sinnstiftend und die Wirklichkeit näherbringend das Fahrrad. Im Gegensatz zur Eisenbahn, die für einen Verlust der Wirklichkeit steht, wird das Fahrrad bei Klose zur Authentizitätsmaschine. Moderner Journalismus und Live-Berichterstattung erfahren, wie der Autor in einem eigenen Kapitel ausführt, ihre Geburtsstunde in diesem Vehikel. Doch auch hier wird die technikkritische Frage gestellt, ob denn nun neue Technologien wirklich neue Möglichkeiten zur Verfügung stellen, oder ob sie sich immer nur auf ihr eigenes Funktionieren und Fortschreiten beziehen, während der Mensch zum dienenden Anhängsel degradiert wird.
Ein Urteil: Für alle diejenigen LeserInnen geeignet, die ihre Füße nicht von den Pedalen lassen können. Eine durchaus gelungene kulturgeschichtliche Abhandlung zu einer Technologie, die laut Buchrückentext die Schwelle zu einem neuen Zeitalter markiert. Zahlreiche Querverweise, Bezüge und Exkurse zu technologischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Nur der Teil, wo sich der Autor, alias Simon Sparwasser, um eine „Erkenntnistheorie des Fahrradfahrens“ (10. Kapitel) bemüht, endet gewissermaßen mit einer Reifenpanne.


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