Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Schwarz, weiß, grau – vor allem grau: So erscheint die postapokalyptische Wirklichkeit, die die Welt der Söhne ist. Die Eröffnung dieser großartigen, bedrückenden Graphic Novel ist so wortkarg wie die von einem nicht näher definierten »Gift« heimgesuchte Erde. Was man im ersten Moment für den Auftakt einer eigenwilligen Feriengeschichte halten könnte, entpuppt sich schon auf den ersten Seiten als Einblick in eine von Gewalt bestimmte Parabel über menschliche Beziehungen: Das Brüderpaar Lino und Santo erschlägt einen Hund, den sie als Beute zu ihrem Vater bringen. Die Heimat der mutterlosen Familie ist ein karger Pfahlbau an einem See, in unmittelbarer Nähe wohnen noch der Jäger Aringo, eine »Hexe« und das von der unerklärten Katastrophe deformierte Zwillingspaar Lorenzo und Matteo. Die weiter entfernten Gebiete sind für die beiden Kinder ebenso verbotenes Terrain wie Worte, die Zuneigung oder Schwäche signalisieren. Der strenge Vater ist – ganz im Ansinnen seine Söhne zum Überleben zu erziehen – ein allzeit gewaltbereiter Despot mit vielen Geheimnissen. Für seine Söhne hat er nur Anweisungen und Drohungen, alles andere geht in sein Notizbuch ein – ein handgeschriebenes Dokument, das sich den Kindern mangels Lesefähigkeit entzieht. Als er, heimlich herzkrank, schließlich stirbt, bleibt seine Botschaft nicht nur für seine Nachfahren unentzifferbar, sondern auch für die LeserInnen: Über mehrere aufeinanderfolgende Seiten hinweg wird Einblick in die verschmierten, fleckigen Aufzeichnungen geboten. Man vermeint etwas entziffern zu können, irrt sich, versucht es erneut, scheitert und kann doch nicht davon lassen.
Diese Form des Entzugs ist durchaus passend, um das Setting von Gipis neuem, umfänglichen Comic zu beschreiben; das Verlangen nach Einsichtnahme (und vielleicht auch: nach Einsicht) bestimmt die Situation von Lino und Santo: Ihr Weg führt sie zu Aringo, den sie töten, weil sie ihn irrtümlich für den Mörder ihres Vaters halten; er führt sie zur »Hexe«, der heimlichen Geliebten des Verstorbenen, die von Anhängern eines mörderischen Kults entführt wird und er führt sie auch zu den Zwillingen, die ihnen als Gegenleistung für Arbeit versprechen, das Notizbuch vorzulesen. Doch die Brüder werden mit der Lektüre vertröstet, Lorenzo und Matteo sind berechnender als ihr auf den ersten Blick einfältig freundliches Wesen vermuten lässt. Das Haus der Zwillinge ist deshalb auch nicht die letzte Station dieses Endspiels, sondern ein altes Industriegelände. Dort hausen die schwer bewaffneten »Gläubigen«, die marodierend und ausschließlich ihren Instinkten verpflichtet umherziehen. Gipis Comic ist eine stimmige, vom Raum her erzählte Mischung vertrauter Motive und Märchenanleihen, der italienische Künstler führt eine wortwörtliche »Welt der Söhne« vor, in der Familie und Gemeinschaft einer tödlichen, nicht enden wollenden Belastungsprobe ausgesetzt sind und Frauenfiguren abwesend oder stark limitiert erscheinen. Lino und Santo sind, gemeinsam mit anderen Figuren, somit einerseits Vertreter einer ersten Generation, die nur noch diffuse Erinnerungen an die verlorene Welt hat. Sie sind andererseits aber vielleicht auch die ersten Vertreter einer neuen, hoffnungsfroheren Zukunft. Gipi lässt das mit dem letzten Panel der Graphic Novel, der das allgegenwärtige Grau in ein gleißendes Weiß überführt, offen. Es scheint zumindest nicht völlig unmöglich, die Kette der Gewalt zu durchbrechen und auf ein Wiederfinden tatsächlicher Gemeinschaft zu setzen. Gipis eindringliche, persönliche Arbeit Die Welt der Söhne ist nichts weniger als ein Meisterwerk.


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