Weder Innen noch Außen: Die Passage
Geschichte der Urbanität, Teil 12; Die Stadt im 19. Jahrhundert IVEinleitend sei nochmals kurz darauf verwiesen, dass die Stadt des 19. Jahrhunderts einen Verlust in ihrer Rolle als Zentrum auf Kosten neuer Ideen der Dispersion, der Grenzaufsprengung hinnehmen muss. Infolge dieser zentrifugalen Tendenz kommt nun der Peripherie – als dem Raum zwischen dem Innen und Außen – eine neue Rolle in der Stadtwahrnehmung zu, und die Stadtgrenze wird mit urbaner Semantik geladen, wobei in gewisser Weise die uralten Sphärenbegriffe der Exo- und Endosphäre wieder Wirksamkeit erlangen. Das ab der Mitte des Centenniums neu erwachende Interesse an der Vorstadt bewegt sich aber auch vor einem größeren kosmopolitischen Hintergrund, indem es mit einer ästhetischen Bewegung einhergeht, die, durch die Erfahrung der kolonialen Expansion und den Kontakt mit afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Ethnien geprägt, ein zunehmendes Interesse an fremden Kulturen entwickelt. Mit dieser Neugier verändern sich die Einschätzungen des Orients und anderer nach heutigem Sprachgebrauch als indigene Kulturen zu bezeichnender Völkerschaften radikal, indem sie eine Wendung der intellektuellen Tradition zu den Begriffen des Anderen und der generellen Figur der Alterität bewirken. Dies schlägt sich auch in der eigenen Kultur durch eine Würdigung des Primitiven, des Wahnsinnigen und des Prinzips der Differenz nieder und führt zu einer überraschend einsetzenden, positiven Umwertung des bestehenden Bildes.
Ebenso müsste man als vorbereitende Faktoren auch noch andere Phänomene der Raumöffnung ins Treffen führen, wie die wachsende Mobilität durch die Eisenbahn und den Telegraphen. Das Resultat dieser Raumöffnung aufgrund des Verlustes der radialen Kraft der Zentrumsstrahlung, die alles um sich gruppierte und nicht nur eine topologische, sondern auch eine Mitte des Denkens herstellte, die das reale und phantasmagorische Zentrum der Existenz im Sinne eines monotheistischen Gottesbegriffes bildete, führte nun zu anderen Denkformen, die eher Netzwerken und der Möglichkeit der Verbindung heterogener Elemente gleichen. Während in der alten Ordnung die Dinge ihren Platz vom Zentrum aus zugewiesen erhalten hatten und sich nicht beliebig mit anderen verbinden konnten – eine Situation, die nur der Traum ermöglicht –, fielen nun diese Schwellen der Zuordnung innerhalb eines bestimmten Kreissegmentes und ermöglichen unzählige neue Kombinationen. Die Kunst des Surrealismus ist das Medium, das diese Entwicklung antizipiert und in vielfältiger Weise zum Ausdruck bringt. Walter Benjamin versuchte nun durch die Anregungen des Surrealismus diese Entwicklung der Neuverbindung heterogenster städtischer Elemente unter dem Begriff der Passage zu erfassen.
Die Passage ist ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, der erstmals eine Zone des Überganges von der Straße zum Haus kreiert und damit die Aufhebung der Grenze von Haus und Stadtraum erfindet. Obwohl ein Gebäude aus dem Paris des vergangenen Jahrhunderts, wird es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlässlich seiner drohenden und auch bald vollzogenen Demolierung von den Literaten entdeckt und thematisch fruchtbar gemacht. Für Benjamin wird die Passage der Schlüsselbegriff zum Verständnis von Stadt und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, von dem aus sich erst die Gegenwart erschließen ließe. Es ist also dieser geheimnisumwobene Begriff der Passage, der eine Klammer für die Verbindung einer ontologisch und chronologisch differenten Welt bildet und mit dem rückblickend nicht nur die Stadt des 19. Jahrhunderts neu gesehen und verstanden werden kann, sondern auch die Architektur der Stadt des 20. Jahrhunderts mitbestimmt wird. Zugleich sind in ihm zahlreiche Elemente enthalten, die urbanes Denken überhaupt ermöglichen. Passage könnte als Synonym für Urbanität überhaupt gelten, und die Rezeptionsgeschichte des Begriffes verläuft komplementär zum Denken des Urbanismus. Die Passage ist der Ort der Verknüpfung heterogener Elemente, indem sie unter der notwendigen Einhaltung der Regeln der Anthropologie einen Möglichkeitsraum der Urbanität schafft. Letztlich ist die Passage selbst ein Ort zwischen Innen und Außen, zwischen Haus und Straße, der die Idee der Polis mit der Idee des Wohnens in einem neuen Raumbegriff vereinigt.
Die Entdeckung dieses Zusammenhanges fällt aber, wie erwähnt, in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts, in der man durch Versuche der Neuformatierung der Wahrnehmung plötzlich die Realität städtischer Phänomene in ihrer Bruchhaftigkeit neu zu begreifen begann. Giorgio de Chirico erzählt etwa, dass er zu Beginn des 20. Jahrhunderts während seines Paris-Aufenthaltes die Gegend des Montparnasse besonders schätzte, da sie eine Grenze zwischen dem Industrie- und Handwerkerviertel des 14. Arrondissements und dem bürgerlichen und gelehrten Quartier Latin darstellte, in dem sich zwei Welten begegneten und sich Fabrikschornsteine auf den bürgerlichen Wohnhäusern abzeichneten. Der Maler war von dieser Grenzsituation innerhalb der Stadt fasziniert, da sie die damals ruhige, plüschige Welt des bürgerlichen Wohnens mit der Dynamik der Fabrik in unmittelbare Verbindung und einen Zustand des Kontrastes und der Unabgeschlossenheit mit sich brachte. Ein anderes Beispiel der neuen Wahrnehmung bietet etwa ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner, die »Bahnhofseinfahrt Bahnhof Löbtau«, wo sich der Blick des alten Vedutenmalers auf die Eisenbahn nun zum Blick aus der Eisenbahn wandelt und die topographische Verschiebung der Stadtrezeption dokumentiert.[1] Denn auf diesem Bild geht der Blick von den Schienen aus ausschließlich auf Hinterhäuser und Rückfassaden, also auf einen für die Vedutentradition völlig ungewohnten und schockierenden Anblick. Der Reisende erreicht durch die Eisenbahn die Stadt auf einem Weg, der nicht für den Anblick gedacht war, nicht auf Betrachtung hin angelegt war. Die Eisenbahn kann auf ihrem Weg durch die Stadt sehr indiskret sein, wenn sie Gärten und Siedlungen passiert und den Blick auf jene Zonen der Verborgenheit richtet, die kein Interesse an der öffentlichen Beobachtung haben, sie ignoriert die bis dahin geltende Ordnung von Vorderfront und Hinterhaus, von Fassade und Baukörper.
Der große Aufwand, der im 19. Jahrhundert der plastischen Gestaltung der Straßenfront und der Liebe zur dekorierten Fassade galt, wurde durch das neue Verkehrsviertel radikal entwertet, und es dauerte nicht lange, bis in der Architektur durch Theo van Doesburg in seinem Manifest »auf dem Weg zu einer plastischen Architektur« die Forderung nach der Abkehr vom Frontalismus und der Abschaffung der Fassade aufgestellt wurde. Die Betrachtung des Hauses als Plastik geht von einem Gesamtblick auf das Haus aus, das durch seine Verwandlung in ein plastisches Objekt auch einen Statuswechsel vollzieht und auf seine Rolle im Ensemble der Straße verzichtet. Paradoxerweise wird nun die Unansehnlichkeit der Hinterhäuser und Hausrücken als Maßstab für die neuen Regeln der Betrachtung herangezogen, derzufolge alle Seiten als gleichwertige Größen zu gelten haben.
Die Entdeckung der Passage de l‘Opera auf der Suche nach den Heterotopien
Doch der entscheidende Impuls in der Kunst der Verbindung heterogener Elemente geht von den surrealistischen Schriftstellern aus. Louis Aragon unternimmt mit seinen Freunden in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Ausflüge in die äußeren, wenig schönen, östlichen Bezirke von Paris, die kaum je das Interesse der Menschen erweckt haben, um dort eine Erkundung des Terrains vorzunehmen. Auf dieser Suche nach den Heterotopien entdeckt er die Stadt neu, indem er durch einen Blickwechsel seine Aufmerksamkeit jenen Orten des Alltags zuwendet, die zu damaligen Zeiten aufgrund ihrer Banalität keinerlei Interesse erweckt haben. »Das Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als einen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Zwang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern eines Kultes des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Vergnügen und der verruchten Berufe geworden.«[2] Aragon beschreibt hier, dass es Orte in der Stadt gibt, die durch ihre Abgeschiedenheit eine Sphäre der urbanen Phantasien erzeugen, Räume, denen das Tageslicht entzogen und die in irisierendes meergrünes Licht getaucht sind, eine bizarre Kulissenwelt überlebter Geschäfte und Vergnügungsformen, die von der Modernisierung betroffen und mit den unübersehbaren Zeichen des Niedergangs behaftet sind.
Im Zuge des Durchbruches des Boulevard Haussmann wurde die zu diesem Zeitpunkt bedrohte Passage de l'Opéra, die einige Jahre später (1925) auch abgerissen wurde, Gegenstand eines Textes, der nicht nur für Benjamin selbst, sondern auch für die Ideenwelt des Urbanismus von grundlegender Bedeutung ist. »Während hier dem modischsten Paris ein neuer Durchgang bereitet wurde, ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden, die Passage de l'Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Haussmann verschlungen hat. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumgewordene Vergangenheit. Veraltende Gewerbe halten sich in diesen Binnenräumen und die ausliegende Ware ist undeutlich oder vieldeutig. Schon die Inschriften und Schilder an den Eingangstoren (man kann ebenso gut Ausgangstoren sagen, denn bei diesen seltsamen Mischgebilden von Haus und Straße ist jedes Tor Eingang und Ausgang zugleich), schon die Inschriften, die sich dann innen, wo zwischen dicht behängten Kleiderständen hier und da eine Wendeltreppe ins Dunkel steigt, an Wänden wiederholen, haben etwas Rätselhaftes. ALBERT au 83 wird ja wohl ein Friseur sein und Maillots de théâtre werden Seidentrikots sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wollen noch mehr sagen. Und wer hätte den Mut, die ausgetretne Stiege hinauf zu gehn in das Schönheitsinstitut des Professeur Alfred Bitterlin. Mosaikschwellen im Stil der alten Restaurants des Palais Royal führen zu einem Dîner de Paris (...).« [3]
Für Benjamin stellt dieser Bautyp des 19. Jahrhunderts nicht nur ein Phänomen architektonischer Wahrnehmung oder besonderer poetischer Qualität dar, sondern es ist dieser Bautyp, der für ihn im Zentrum seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion des gleichen Zeitraums steht, um damit auch eine fundamentale Bestimmung des 20. Jahrhunderts zu erklären. Während es für Aragon und die Surrealisten primär um eine poetische Darstellung dieser bizarren Welt aufgrund des absurden Kontextes geht, sieht Benjamin darin durch eine Analyse des Bedeutungsgehaltes der Passage eine Erweiterung der geistigen und wissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten, die sich auf die gesamte Gesellschaft erstreckt. Das Faszinosum des Textes erklärt sich für Aragon und Benjamin aus der Konkretheit, wie sie nur durch dichterische Gestaltung, nicht aber durch konventionelle wissenschaftliche Beschreibung hervorgerufen werden könne und mit der sich ein ganz bestimmtes Bild einer Epoche wiedergeben lasse. Die Konkretheit wird gerade durch diese Versammlung der heterogenen Dinge an einem Ort, gewissermaßen einer frühen Installation von Objekten unterschiedlichster Herkunft, Bedeutung und Zeit erzeugt.
Diese Genauigkeit des Bildes lässt sich aber nur aufgrund der Beobachtung eines solchen mit Phantasmen aufgeladenen Raumes erzielen, die zu ihrer Wiedergabe der Poesie bedürfe und daher auch keine Ablösung der dichterischen Methode ohne fundamentale Verluste zulasse. Diese Methode verlange eine Abkehr von den cartesianischen Prinzipien und die Einlassung auf eine höhere Glaubwürdigkeit der sinnlichen Erkenntnis, der Phantasien und nicht zuletzt der Wahnvorstellungen, wie sie Benjamin bereits anhand seiner Protokolle des Haschischkonsums festhielt, alles zugunsten einer unvoreingenommenen Sammlung der Phänomene des Raumes, auch wenn sie aus dem Reich des Traumes, des Rausches, der Halluzination oder der Magie stammen. »Wolkenatmosphäre, Wolkenwandelbarkeit der Dinge im Visionsraum«[4], so ein Eintrag Benjamins unter »erste Notizen«. Dabei geht es um eine Aufhebung der starren Subjekt-Objekt-Beziehung und das Betreten eines Visionsraumes, wie er eben auch durch die Passage verkörpert wird. Das harte Subjekt tritt in einen Raum ein, der ein Bild-Raum ist, allerdings durch Bilder, die durch eine Materialisierung des Imaginären zustande kommt, aber zugleich von inneren Bildern erzeugt von solchen Objekten, die in phantastischen Zusammenhängen stehen, und es gelingt ihm durch diese Kontamination der Wahrnehmung mit visionären Elementen des Tagtraumes eine Lockerung seiner alten Subjektivität zugunsten einer Erweiterung des Bewusstseins. Die Passage ist ein fensterloser Raum, in dem sich Haus und Straße, Innen und Außen überlagern und durchdringen und zugleich die körperlichen Bedingungen der Rezeption neu gestalten. Der kontrollierende Raumsinn des Außenraumes wird schwächer, und die Einbildungskraft wie auch das Erinnerungsvermögen nehmen zu, die leibliche Bewegung des Flaneurs tut das Ihre zur kinästhetischen Verschränkung zwischen Raum und Körper. Der Raum gewinnt zunehmende Macht über die Regungen von Geist und Körper. Auch die Welt der Waren wird durch Ausstrahlung wirkmächtig, doch ist es in diesem Falle der frühen Passage noch die Materialität der vergangenen Dingwelt, deren Physiognomie zerstört und grotesk ist, von Objekten, deren Träume, die sie einst besetzten, längst abgezogen wurden. Sie verwandeln die Passage in ein Panoptikum des vergangenen Jahrhunderts, in einen Erinnerungsraum, in dem sich die vergangene Ordnung der Dinge auflöst und sie in absurde, spielerische Kombinationen zerfallen: »An diesen Höhlenwänden wuchert als unvordenkliche Flora die Ware und geht, wie die Gewebe in Geschwüren, die regellosesten Verbindungen ein. Eine Welt geheimer Affinitäten: Palme und Staubwedel, Fönapparat und die Venus von Milo, Prothese und Briefsteller finden sich hier wie nach langer Trennung zusammen. Lauernd lagert die Odaliske neben dem Tintenfass, Adorantinnen heben Aschenbecher wie Opferschalen. Diese Auslagen sind ein Rebus ...«[5]
Die Passage als ein Ort des Übergangs (rite de passage)
Der Begriff des Passageraums oder Passageritus kommt aus der Ethnologie und beschreibt das Ritual und den Mythos in alten agrarischen Kulturen, mit dem Übergänge zwischen bestimmten Zeit-Räumen wie zum Beispiel im Initiationsritus von der Kindheit zum Erwachsenenstatus reguliert werden. Dieser Bereich der Passage ist zunächst durch eine klare Abtrennung von der säkularen, profanen zur sakralen Zeit bzw. vom profanen zum sakralen Raum gekennzeichnet. Innerhalb dieses Raumes, der sakralen Charakter hat, verliert das Subjekt in der ersten Phase seine vorhergehenden Eigenschaften, um auf einen neuen Zustand vorbereitet zu werden. In der nächsten Phase wird der Passageraum ein Zeit-Raum der Ambiguität, ein Zwischenstadium, das von van Gennepp in seinem klassischen Werk »Übergangsriten« als limen bezeichnet wird, der den Übergang von der alten Existenzform wie zum Beispiel der Kindheit zur neuen des Erwachsenen strukturiert, indem er die Elemente des Vergangenen auflöst und durch verschiedene Rituale auf die kommende Phase vorbereitet. In der dritten Phase der Angliederung oder Inkorporation finden die Rituale und Handlungen statt, die in Hinblick auf die Rückkehr in die Gesellschaft in einer zumeist höheren Position durchlaufen werden. Die Narben, die während der Initiationsriten häufig beigebracht wurden, sind Körpermarkierungen und gelten als Erinnerung an die Beendigung des alten Lebens und zugleich als Zeichen nach Innen und Außen.
Aber es gab auch einen anderen Typus von Passagezone, wie etwa den Grenzübergang zwischen verschiedenen Territorien, der durch ein Heiligtum, Opferstätte oder Idol von Weg- und Schutzgottheiten gekennzeichnet ist, um sich für den Eintritt in die exosphärische Fremdwelt vorzubereiten. Ebenso gab es Passagestellen zur jenseitigen Welt in der Form von Naturheiligtümern wie Erdspalten oder Höhlen, um mit Geistmächten Kontakt aufzunehmen. Das Prinzip der Passage im apotropäischen Sinn besteht in der Verbindung zwischen unterschiedlichen Räumen, zeitlicher oder topographischer Natur, da Verhalten und Bedeutung stets an eine räumliche Ordnung gebunden sind und bestimmte Orte und Zeitpunkte (als Orte im Zeitraum) ein entsprechendes Verhalten hervorrufen. Die Idee des Übergangsrituals besteht in der Herstellung einer Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Räumen. Sie ist notwendig, weil die unterschiedlichen Räume von jeweils differenten Gottheiten und überirdischen Kräften bestimmt werden und ein übergangsloser Eintritt in eine andere Zone aufgrund des schutzlosen und unvorbereiteten Betretens eines fremden Kraftfeldes schwerste und verderbliche Folgen nach sich ziehen könnte.
Der Passagenraum Benjamins kann an die alten magischen Praktiken des Übergangs anschließen.«Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, in dem es an verborgenen Stellen in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden. Alle Tage gehen wir nicht ahnend an ihnen vorüber, kaum aber kommt der Schlaf, so tasten wird mit geschwinden Griffen zu ihnen zurück und verlieren uns in den dunklen Gängen. Das Häuserlabyrinth der Städte gleicht am hellen Tage dem Bewusstsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tagsüber unbemerkt in die Straßen. Nachts unter den dunklen Häusermassen aber tritt ihr kompakteres Dunkel erschreckend heraus, und der späte Passant hastet an ihnen vorbei, es sei denn, dass wir ihn zur Reise durch die schmale Gasse ermuntert haben.«[6]
In weit fortgeschrittenen Kulturen besteht zwar noch die gleiche Grundkonstellation des Zwischenraums, doch wird hier die liminale Phase als die Ambiguität eines Zeit-Raums beschrieben, in dem Elemente der alten Kultur zunächst isoliert, zerlegt und wie im Spiel neu verbunden werden.[7] Die Bindekräfte der existenten Kultur verlieren in dieser liminalen Zone an Einfluss und ermöglichen neue Kombinationen. Während aber die alten, tribalen Kulturen keine Individualisierung vorsahen, sind modernere Passagerituale gerade durch diese Möglichkeit charakterisiert, indem der Prozess von Trennung, Schwelle und Umwandlung von kulturellen Symbolen durch Einzelpersonen, etwa Künstlern, vollzogen werden kann und die Neukombination auch ins Kollektiv eingehen kann.
Das duale Prinzip der Übergangszone. Topos und Chronotopos.
Die Passage ist folglich als eine Übergangszone zu bezeichnen, deren zentraler Aspekt entweder im Raum oder in der Zeit liegt, also Topos oder Chronotopos, obwohl stets beide Momente enthalten sind. Bei Benjamin liegt der Schwerpunkt der Haupttypen wohl beim Chronotopos, also dem Aspekt der Überlagerung verschiedener Zeiten im Raum, obwohl er immer von einem konkreten Raum ausgeht, in dem sich die Verbindungen verschiedener Elemente ergeben und daraus neue Dimensionen entstehen. Der Ausgangspunkt ist eben der Grundtyp der Passage: »Wir haben, sagt der Illustrierte Pariser Führer, ein vollständiges Gemälde der Seine-Stadt und ihrer Umgebungen vom Jahre 1852, bei den inneren Boulevards wiederholt der Passagen gedacht, die dahin ausmünden. Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt. Sie sind bei plötzlichen Regengüssen der Zufluchtsort der Überraschten, denen sie eine gesicherte, wenn auch beengte Promenade gewähren, bei der die Verkäufer auch ihren Vorteil finden.«[8] Benjamin bezeichnet diese Stelle selbst als den locus classicus seiner Darstellung, da sich von hier aus bereits die Verbindung zu weiteren zentralen Elementen seiner Arbeit wie dem Flaneur, der Langeweile und der Bauweise der Passagen mit der besonderen Bedeutung der Transparenz durch den Einsatz des Glases abzeichne. Die Schlüsselstellung der Passage beruht auf ihrer besonderen Architektur, mit der sie Straße und Haus verbindet, und aus dieser urbanen Position entfaltet Benjamin seine Theorie des 19. Jahrhunderts, in der die Welt der Ware Einzug hält und die unterschiedlichen Sozialcharaktere der bürgerlichen Protagonisten der postrevolutionären Phase vom Flaneur bis zur Hure beleuchtet werden. Der Flaneur nimmt durch sein Verhalten selbst die Stellung eines Mediums ein, das die heterogenen Momente des urbanen Lebens durch sich hindurch lässt. Auch spiegelt er das Gedächtnis der Stadt durch die Wahrnehmung ephemerer Erscheinungen, die für ihn zur Allegorie werden, wider.
Passage als Topos
Von den Passagen insbesondere als Eisenbauten gilt: Der wesentlichste Bestandteil ist ihre Decke. Die Passage ist ein überbauter Raum, nicht ein umbauter.[9] Die Seitenwände sind gleichsam verborgen, da sie in erster Linie in ihrer Funktion als Wände des Hauses und nicht der Halle dienen. Sie nimmt die Verbindung von Haus und Straße auf und schafft damit jenen neuen Typus von urbanem Zwischenraum, der weder Haus noch Straße ist.
Hier kommt ihr partieller Ursprung aus dem Gewächshaus zum Vorschein, und dessen Eigenschaft zur Temperierung von empfindlichen exotischen Pflanzen, die nun auch zur Herstellung einer dem Menschen angenehmen Atmosphäre, eines freundlichen urbanen Binnenklimas genutzt werden kann. Sie ist eine atmosphärische Insel der postrevolutionären französischen Gesellschaft, die den urbanen Raum neu fasst.
Sie steht auch kunsthistorisch an einer Schwelle zwischen den Typen von profanem und sakralem Raum. Die Passage bleibt an der Grenze zum Breitraum stehen, ihre Höhe entspricht nahezu ihrer Breite. Das ist ein Fundament für das Altmodische ihrer Erscheinung. »So lange Kirchenräume mehr sein wollen als Versammlungsräume, solange sie den Gedanken des Ewigen bergen wollen, wird der ungeteilte Raum ihnen nur bei einem Übergewicht der Höhe über die Breite genügen.«[10] Benjamin merkt dazu an, dass etwas Sakrales, ein Rest vom Kirchenschiff dieser Warenreihe, die die Passage ist, bleibe und sie damit funktional schon im Gebiet des Breitraums, architektonisch aber noch in dem der alten Halle stehe.[11] Insofern nimmt sie auch in architekturgeschichtlicher Hinsicht, was die Hallen anlangt, eine Zwischenstellung ein, indem sie zwischen Kirchenraum und der neueren Breithalle, die aus dem italienischen Schlossbau der Hochrenaissance stammt, und über die Galerie des französischen Königsschlosses letztlich im 19. Jahrhundert auf die Lager-, Markt-, und Fabrikhallen übertragen wurde.
Traumhaus
In der Abteilung »Traumhaus, Museum, Brunnenhalle« notiert Benjamin zu Traumhäusern des Kollektivs: Passagen, Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfigurenkabinette, Kasinos, Bahnhöfe[12] und umreißt damit einen Typus urbaner Gebäude, die für das 19. Jahrhundert maßgeblich sind. Das Traumhaus ist vom Charakter her ebenfalls ein Ort des Übergangs, in dem eine Schwelle vom Wachsein zum Traum angelegt ist: Wir sind arm an Schwellenerfahrungen geworden. »Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist.«[13] Diese Traumhäuser, bei denen es sich im Wesentlichen um Gebäude des Historismus handelt, sind Illusionsräume, die mit der Macht ausgestattet sind, die Bilder anderer Zeiten und Orte hervorzurufen. »Ja, diese Zeit war ganz auf den Traum eingerichtet, war auf Traum möbliert. Der Wechsel der Stile, das Gotische, Persische, Renaissance etc.«[14]
Selbst Kirchen finden Eingang in diesen Katalog, indem sie durch ihre Architektur eine Rückverwandlung in den profanen Raum eines Ballsaales andeuten. »Das Traumhaus der Passagen findet sich in der Kirche wieder. Übergreifen des Baustils der Passagen in die sakrale Architektur. Über Notre Dame de Lorette: Das Innere derselben ist unstreitig höchst geschmackvoll, nur ist es nicht das Innere einer Kirche. Der mächtige Plafond würde den glänzendsten Ballsaal der Welt würdig schmücken; die zierlichen broncenen Lampen mit ihren matt und bunt geschliffenen Glaskugeln scheinen aus den elegantesten Cafés der Stadt herbeigeschafft zu sein.«[15]
Ein öfters wiederkehrender Typus: »Passage als Brunnenhalle zu denken. Man möchte auf einen Passagenmythos mit einer legendären Quelle im Mittelpunkt, einer im innersten Paris entspringenden Asphaltquelle stoßen. Noch die »Bierquellen« haben ihr Dasein von diesem Brunnenmythos. Wie sehr auch die Heilung ein rite de passage, ein Übergangserlebnis ist, das wird in jenen klassischen Wandelhallen lebendig, in denen auch die Leidenden gleichsam ihrer Genesung entgegenwandeln. Auch diese Hallen sind Passagen.«[16]
Weder Innen noch Außen
Um eine besondere Form des Traums handelt es sich, wenn sich das Haus, die Wohnung in Straße verwandelt: »Das Interieur tritt nach außen. Es ist, als wäre der Bürger seines gefesteten Wohlstands so sicher, dass er die Fassade verschmäht, um zu erklären: mein Haus, wo immer ihr den Schnitt hindurch legen mögt, ist Fassade. Solche Fassaden besonders an Berliner Häusern, die aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen: ein Erker springt nicht heraus, sondern springt – als Nische – herein. Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße. Der betrachtende Passant steht gleichsam im Erker.«[17] Die Idee des In-den-Raum-Springens, bzw. das Zimmer nach außen zu stülpen, beruht auf dem Wunsch, die Wohnung nie mehr verlassen zu müssen und dennoch keinen Weltverzicht leisten zu müssen. Die Frühform des Cocoonings kündigt sich ebenso an wie das neue Repräsentationsbedürfnis des Bürgers jeglicher Schattierung, der sein Selbst in Personalunion mit seiner Wohnung überall zu zeigen wünscht. Bei der Öffentlichkeit handelt es sich nun um eine Polis, in der jeder sein Zimmer mitnimmt. Oder man traut sich ins Außen, ins Offene nur bei Mitnahme des sicheren Interieurs zu treten.
Fortsetzung folgt.
Fußnoten
Walter Grasskamp, Die Malbarkeit der Stadt; in: Die Großstadt als Text, Hg. Manfred Smuda, München 1992, S. 281 ↩︎
Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Frankfurt/Main 1996, S. 18 ↩︎
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V/2, Frankfurt/Main 1991, S. 1041 ↩︎
a.a.O., V/2, S. 1024 ↩︎
a.a.O., V/2, S. 1045 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 135 ↩︎
Victor Turner, Vom Ritual zum Theater, Frankfurt/Main 1995 ↩︎
Benjamin, a.a.O., V/1, S. 83 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 221 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 222 ↩︎
ebenda ↩︎
a.a.O., V/1, S. 511 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 617 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 282 ↩︎
a.a.O., V/1, S. 512 ↩︎
ebenda ↩︎
ebenda ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.