Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Im Verlag Wagenbach ist das monumentale zweibändige Werk Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes erschienen. Es ist das bisherige Opus Magnum und gewichtigste Buch (960 Seiten) des Architekten und Städtebauers Vittorio Magnago Lampugnani, der an der ETH Zürich Geschichte des Städtebaus lehrt. Allein vom Umfang her konkurriert es mit Leonardo Benevolos Die Geschichte der Stadt (von den ersten Städten bis zur Moderne), das bisher die städtebauliche Bibliothek mit breitem Rücken dominiert hat.
Mit Stadt meint Lampugnani, wie gleich im Vorwort eingeschränkt wird, deren architektonische Dimension, wenn auch in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Einer zeitgenössischen Aufsplitterung von Stadtplanung und Architektur soll so schon vom Ansatz her entgegengewirkt werden. Es ist dezidiert von der europäischen und nordamerikanischen Stadt im 20. Jahrhundert die Rede. Ausnahmen bilden der eine oder andere Ausflug nach Lateinamerika oder Asien. Ausgebreitet wird nicht die Entwicklung der realen Urbanisierung, sondern eine Ideengeschichte des Städtebaus, in der Konzepte, Manifeste und Denkschulen im Zentrum stehen und auch tatsächlich Gebautes als die Manifestation einer Idee betrachtet wird. Es geht um die Entwicklungsstränge des Denkens und Entwerfens, die als Parallelerzählungen in 56 Kapiteln nebeneinander gestellt werden. Sind es zum Großteil vorhersehbare Strömungen, die beschrieben werden, von der Garden City-Bewegung und den Futuristen bis hin zur Post- und Neomoderne, so werden auf den zweiten Blick bald Vertiefungen und Ergänzungen sichtbar, die die Publikation von anderen unterscheiden. Da wird, um ein Beispiel zu nennen, neben dem klassischen Diskursduell von Camillo Sitte gegen Otto Wagner (Stichwort »Künstlerischer Städtebau versus unbegrenzte Großstadt«) auch den städtebaulichen Konzepten von Adolf Loos Raum gegeben, die sonst gerne unter den Tisch fallen. Da werden dem Wiederaufbau der französischen Hafenstadt Le Havre im Kapitel Rationalistischer Klassizismus in Frankreich überraschend viele Seiten gewidmet. Auffallend ist eine Vielzahl von sorgfältig zusammengetragenen Illustrationen in bester Qualität – manche sind zum ersten Mal publiziert –, die an sich vertraute Projekte in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Einige Schwerpunktsetzungen, die eine oder andere offene, wenn auch seltene Polemik gegen die Avantgarde und so mancher Subtext in diesem Werk haben Lampugnanis KritikerInnen auf den Plan gerufen, die die Publikation nach Nachweisen einer zumindest konservativen, wenn nicht gar reaktionären Gesinnung durchforsteten und zwischen den Zeilen fündig zu werden glaubten. Denn Lampugnani, der 1990 –1995 das Amt des Direktors des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt innehatte, zählt zu den zentralen Protagonisten des sogenannten Berliner Architekturstreits, der nach dem Fall der Mauer Anfang der 1990er Jahre entbrannt war und in dem es um eine architektonisch/städtebauliche Neukonzeption der wiedervereinigten Großstadt ging. Traditionalisten (Lampugnani, Josef Paul Kleihues, Hans Kollhoff, Hans Stimmann u. a.) und Neomoderne (insbesondere Rem Koolhaas und Heinrich Klotz) lieferten sich nicht zuletzt in den Printmedien (Die Zeit, Der Spiegel, FAZ) eine hitzige Debatte. Lampugnani hatte mit seinem Artikel »Die Provokation des Alltäglichen« einen Erstimpuls für die Diskussion gegeben (Der Spiegel 51, 1993). In diesem Artikel forderte er dazu auf, man solle sich – anstelle sich Experimenten zu widmen – besser den Tugenden der konservativen Vorkriegsarchitektur zuwenden sowie zu handwerklicher Qualität, einer Ästhetik der Neuen Einfachheit, den Rasterfassaden mit einfachen Putz- und Steinmauern und einer konventionellen Geometrie zurückkehren. Lampugnani argumentierte auf einer betont ästhetischen Ebene, propagierte eine »Klarheit der Form« im Sinn eines seiner Lehrmeister: Aldo Rossis. Lampugnani steht in der Tradition des Architektur- und Stadtdenkers Aldo Rossi, der Mitte der 1960er Jahre die »Wiederentdeckung der historischen Stadt« eingeläutet hatte und die »Permanenz« des Stadtgefüges und ein historisches Bewusstsein in den Mittelpunkt seiner Theorien gestellt hatte.
Auf Lampugnanis Spiegel-Artikel folgte eine Auseinandersetzung, die bis heute andauert. Der renommierte Kunsthistoriker Heinrich Klotz empfand Lampugnanis Kritik an der Avantgarde als Skandal und sah Berlin schon auf dem Weg nach »Neuteutonia«. In der Sehnsucht nach einer verlorenen Ordnung sahen die schärfsten KritikerInnen eine undemokratische Gesinnung und interpretierten die von Lampugnani ästhetisch argumentierte Polemik und den Ruf nach einem neuen Klassizismus gar als indirekten Versuch, das NS-Bauwesen und insbesondere den monumentalen Klassizismus eines Albert Speer zu rehabilitieren. Ein Vorwurf, den Lampugnani wiederum heftig zurückwies. Der Streit hat sich seither ausgedehnt. Der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Martin Mosebach, der mit seinen im Stil an Romane des 19. Jahrhunderts anschließenden Prosatexten einen conservative turn in seinem eigenen Metier einläuten will, veröffentlichte eine Polemik gegen den Städtebau und die Architektur der Moderne mit dem Titel »Wider das heutige Bauen. Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön« (FAZ, 26. Juni 2010). Der eigentliche Text fügt dem Titel nichts Wesentliches hinzu. Lampugnani wiederum war 2007 – 2008 Vorsitzender der Jury zum Wettbewerb für den Neubau des höchst umstrittenen Humboldt-Forums am Standort des früheren Berliner Stadtschlosses und des nach der Wende abgerissenen Palastes der Republik der ehemaligen DDR. Das in der Kubatur des Stadtschlosses neu zu errichtende Gebäude sollte laut Ausschreibung an drei Seiten einen Nachbau der historischen Fassade enthalten. 2008 wurde der Entwurf des Italieners Franco Stella, der der Auslobung folgte und einen modernen Bau hinter einer historischen Fassade vorsah, mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Der Urbanist Philipp Oswalt schrieb dazu 2009: »Dass Stellas Entwurf gleichwohl einstimmig zum ersten Preis gekürt wurde, liegt wohl daran, dass er wie kein anderer Entwurf 1:1 den Geist der fragwürdigen Auslobung umsetzt. Gefragt war die Erstellung des Sehnsuchtsbilds einer vergangenen Epoche.«
In Die Stadt im 20. Jahrhundert findet sich nun auf den ersten Blick glücklicherweise kein allzu griffiger weiterer Zündstoff für die Debatte, aber ein gewisser Tenor klingt trotz aller Bemühung um Objektivität durch. Als Beispiel kann die ausführliche Beschreibung des von den Alliierten durch einen Bombenangriff 1945 zerstörten Le Havre dienen (insbesondere das Stadtzentrum wurde als tabula rasa hinterlassen). Federführender Stadtplaner war ab 1945 Auguste Perret, der einerseits als Pionier im Einsatz von Stahlbeton bekannt wurde und andererseits in der Tradition eines französischen rationalistischen Klassizismus stand. Mit Le Corbusier, der in jungen Jahren in Perrets Büro gearbeitet hatte, lieferte er sich später die bekannte Kontroverse »für und wieder das Langfenster«. Der Wiederaufbauplan Perrets basierte auf einem strengen, regelmäßigen Blockraster, der aus dem 19. Jahrhundert entlehnt schien. Die in Beton ausgeführten Gebäude wurden – wie Lampugnani schreibt – zu einem »strukturellen Klassizismus« geformt, den eine »ernste klassizistische Physiognomie« auszeichnete. Für Lampugnani repräsentiert das wiederaufgebaute Le Havre eine bewundernswerte und heute verlorengegangene architektonische Disziplin(ierung). Nach Perrets Tod wurde die bewunderte Strenge allerdings gelockert, wie Lampugnani kritisch anmerkt, einige Blöcke wurden freier (sprich: modernistischer) interpretiert und die Stadt drohte – wie Lampugnani es formuliert – innerhalb ihres eigenen Rasters zu »implodieren«. So gibt es in den zwei Bänden ein durchgängiges Motiv. Es ist das Leitbild der »traditionellen europäischen Stadt«, das in der Postmoderne wieder ins Zentrum rückte und das die unterschiedlichsten Avantgardeströmungen davor auf die eine oder andere Weise zumindest hinterfragt, meist aber offensiv attackiert hatten. In einem geschickten Schachzug identifiziert Lampugnani in Rem Koolhaas’ Delirious New York – einem zentralen Buch des jüngeren Städtebaudiskurses, das die »Kultur der metropolitanen Verdichtung« feierte – nicht ganz zu Unrecht eine mehr oder weniger verborgene Sehnsucht nach der Qualität der europäischen Stadt, die ja wesentlich auf Kompaktheit und räumlich gefasstem öffentlichem Raum beruht. Manhattan wird so zu einem europäischen Exportprodukt und zur Variante der europäischen Stadt erklärt, der Neuerungsgehalt somit relativiert und ein Kontrahent im »Architekturstreit« insgeheim eingemeindet.
Am Ende des zweiten Bandes wird das andauernde städtebauliche »Wunder von Barcelona« beschrieben, vielleicht auch, um einen versöhnlichen Ton anzustimmen. Wer kann sich der Anziehung der katalanischen Metropole schon entziehen? Und man ist wirklich ganz froh, das regennasse Le Havre Perrets verlassen zu haben und über die Meerespromenade Manuel de Solà Morales’ laufen zu dürfen.


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