Axel Laimer

Sonya Menschik


»Das andere Wien«, das Wien abseits der Jugendstil-Architektur, Cafehaus-Literatur und Künstlervereinigungen (Secession), die sich in der Wiener Moderne zusammenfassen lässt, stellen Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner in ihrem Buch dar. Basierend auf zeitgenössischer Literatur, Polizeiprotokollen, Geschichtsbüchern und Zeitungsberichten, werden jene Ereignisse und Ursachen erfasst, die in Wechselwirkung und Zusammenspiel »Anarchie in der Vorstadt« bedingten. Beschrieben werden die Arbeits-, Lebens- und Wohnsituationen und Ereignisse in Form von Anekdoten und Erzählungen, die gesellschaftstheoretisch untermauert werden.
Es handelt sich jedoch nicht um eine Momentaufnahme der ArbeiterInnengesellschaft in den Vorstädten, vielmehr versuchen die Autoren die Entwicklungsgeschichte hin zu einer europäischen Großstadt und der damit verbundenen Entstehung von Massenkultur nachzuzeichnen.
Beginnend mit der Revolution von 1848 setzt eine Reihe von Ereignissen ein, die es überhaupt erst zu einer ArbeiterInnengesellschaft und zu Vorstädten hat kommen lassen.
1857 lässt Kaiser Franz Josef die Stadtmauer schleifen und erteilt den Befehl zur Erweiterung und Verschönerung seiner Reichs- und Residenzstadt. Der Börsenkrach von 1873 und die Agrarkrise der folgenden Jahre fallen zeitlich in die industrielle Revolution und lösen eine massive Landflucht aus. Aus allen Kronländern der Monarchie strömte der Migrantlnnenfluss nach Wien und lässt »die EinwohnerInnenzahl Wiens über das ganze Jahrhundert versiebenfachen.
(…) Der Höchststand mit knapp über 2 Millionen Einwohnern wird 1910 erreicht.«
Die Stadt reagiert mit baulichen Veränderungen. Innerhalb der Stadt wird die Ringstraße als Boulevard mit seinen Pracht- und Repräsentationsbauten errichtet. In der äußeren Vorstadt werden Zinskasernen aus dem Boden gestampft, ganze Bezirke (Simmering/ Favoriten) im Raster geplant. Bauliche Grenzen werden zu gesellschaftlichen Grenzen. So trennt der Ring die Adels- und Großbürgergesellschaft von den Bürgerlnnen in den inneren Vorstädten, diese sind wiederum von den äußeren Vororten und der ArbeiterInnengesellschaft getrennt. Durch den immer weiter ansteigenden Bevölkerungszuwachs entsteht akuter Wohnungsmangel, zwischen 1830 und 1850 steht einer 40%igen Bevölkerungssteigung eine nur knapp 10%ige Steigerung des Wohnungsbestandes gegenüber. Hinzu kommen Bauspekulation, Inflation der damit verbundenen Teuerung von Lebensmittel und Arbeitslosigkeit. Diese Atmosphäre von trostlosen Lebensumständen und Arbeitssituationen entladen sich in zwei unterschiedliche Richtungen. Zum einen flüchten sich die Menschen, »durch die Beschleunigung des Alltags, die Verknappung der verfügbaren Zeit durch die 60- bis 70-stündige Wochenarbeit und die Verdichtung der Reproduktion, Erholung und Vergnügungen auf Samstagabende und Sonntage«, in eine Gegenwelt aus Kitsch, Vergnügen und Mythen (Volkshelden). In den zahlreichen Wirtshäusern und Tanzlokalen, so wie in den angelegten Vergnügungsvierteln (Böhmischer Prater, Wurschtelprater und Wiener Venedig) suchen die Menschen Ablenkung und kompensieren ihren kargen Alltag. Zum anderen entlädt sich die aufgestaute Aggression in Aufständen und Hungerrevolten (1911) gegen die inneren Bezirke der Stadt und deren Repräsentanten. »Die Sozialdemokraten - nützen das populäre [Potential] als Medium der politischen Mobilisierung und Thematisierung [...] und imaginieren die künftige Nobilitierung des Proletariats als sozialen und kulturellen Träger eines neuen homogenen Stadtganzen.«
Den Autoren ist es mit diesem Buch in spannender und vielschichtiger Weise gelungen, durch den Blick auf das »andere« Wien um 1900, das bisher gültige Bild der Gesellschaft um die Jahrhundertwende um einen großen Aspekt zu erweitern: den zahlenmäßig Großteil der Wiener Bevölkerung ausmachte.

Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner:
Die Anarchie der Vorstadt, das andere Wien um 1900
Frankfurt/ Main 1999, Campus Verlag.
Seiten 238. ATS 350,-


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