Ferdinand Redl


Ähnlich wie andere innerstädtische Wohnquartiere durchläuft auch das Stuwerviertel in Wien gerade eine bemerkenswerte Transformation,[1] die für seine BewohnerInnen durchaus Anlass zur Besorgnis ist: Einst ein Sorgenkind der Bezirkspolitik hat es in den letzten Jahren den Weg von den Chronik-Seiten der Boulevardzeitungen, auf denen jahrelang reißerische Berichte über Schwarzmarkt, Prostitution und Polizeieinsätze zu lesen waren, hin zum Grätzel mit Zukunft[2] zurückgelegt. Aus deviant wird urban und aus den Gründerzeitbeständen, die einst als »Schuttabladeplatz für Architektur und Existenzen« (Maderthaner & Zahradnik 1983, S. 88) beschrieben wurden, wird ein »Idyll« und »Ort für Idealisten« (Die Presse 5.4.2013). Tatsächlich steht das Viertel im Zentrum sehr weitreichender innerstädtischer Umstrukturierungen Wiens, die ihm auch eine neue Funktion zuweisen. Das Viertel wird als Wohnraum und Arbeitsplatz für neue NutzerInnen interessant. Auch von Gentrifizierung wird im Zusammenhang mit den Aufwertungsprozessen gesprochen. Doch der Versuch Gentrifizierungstheorien auf die gegenwärtigen Entwicklungen im Stuwerviertel umzulegen, zeigt die engen Grenzen des Diskurses auf, weswegen ich versuche mich den Umwälzungen im Viertel aus einer regulationstheoretischen Perspektive zu nähern.[3]
Verfolgt man den Diskurs über die zunehmende Verknappung von leistbarem Wohnraum in Wien, fällt auf, dass räumlichen Dynamiken eine vergleichsweise geringe Bedeutung zugemessen wird. Seit der Wirtschaftskrise wird zwar verstärkt über Dynamiken auf dem Immobilienmarkt geschrieben und auch über die anstehende Novellierung des Mietrechts berichtet. Zögerlich werden mitunter auch Fragen über eine Wiederaufnahme des kommunalen Wohnbaus gestellt und weniger zögerlich mit dem Verweis auf die Vergabebestimmungen der EU zurückgewiesen.[4] Die zentralen Veränderungen, denen städtische Regulative in den letzten Jahren unterworfen waren, werden jedoch in Wien im Vergleich mit anderen Großstädten kaum mit Veränderungen auf regionaler Ebene verbunden. Wird von Gentrifizierung gesprochen, stehen in der Regel Lokaleröffnungen und neue NutzerInnen bzw. BewohnerInnen im Fokus. Dementsprechend überrepräsentiert ist das Thema in Restaurantkritiken und Grätzelportraits, während es in die Berichterstattung über Politik und Wirtschaft kaum Eingang findet. Kurz: Gentrifizierung wird im Diskurs vor allem hinsichtlich des Konsumverhalten bürgerlicher Bevölkerungsgruppen verwendet, während die Frage der Verdrängung größtenteils ausgeklammert wird.
Innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses sind in den letzten Jahren dennoch vermehrt Versuche unternommen worden, Gentrifizierungsprozesse in Wien zu beschreiben. Das Thema wurde bereits in Zusammenhang mit dem Karmeliterviertel, dem Brunnenviertel und dem Stuwerviertel in Wien vertieft. (Vgl. Huber 2011, Seidl 2009, Weingartner 2007) Als grundsätzliche Herausforderung erweist sich in der Regel jedoch, dass das zur Verfügung stehende Datenmaterial für eine kleinräumige Analyse nicht ausreicht. Zusätzlich vollzieht sich der Wandel auf Grätzelebene durch das bestehende Mietrecht vergleichsweise langsam. Verdrängung erfolgt häufig indirekt: Ältere MieterInnen sterben, jüngere besser verdienende ziehen nach. Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur kann dabei nicht unabhängig von den baulichen und infrastrukturellen Aufwertungsprozessen betrachtet werden, die ehemals günstige Viertel für ärmere Menschen nicht mehr leistbar machen. Günstiger Wohnraum geht dadurch vor allem im innerstädtischen Raum zunehmend verloren. Vom Ausbleiben eines Gentrifizierungsprozesses in Wien kann somit nicht gesprochen werden, der langsame Verlauf des Prozesses zeigt jedoch die Bedeutung städtischer Regulative für dessen spezifische Ausprägung auf.
Auch in der Arbeit, die diesem Artikel zu Grunde liegt, (Redl 2014) konnte die grundsätzliche Problematik nicht überbrückt werden, weswegen auch hier qualitativ geforscht wurde. Die theoretische Grundlage für den Text bildet die Regulationstheorie (siehe Fußnote 3). Damit soll der grundlegende Wandel, den ein Grätzel – im konkreten Fall das Stuwerviertel – erfährt, als abhängig vom tiefgreifenden Wandel eines Akkumulationssystems begriffen werden. Dieser zieht eine Reorganisation von räumlichen Strukturen nach sich, die das Viertel auch funktional umwandelt und eine Änderung der NutzerInnen- und BewohnerInnenstruktur bewirkt. Im Forschungsinteresse stand dabei jedoch nicht nur der Wandel des Viertels, sondern dessen Wahrnehmung durch seine BewohnerInnen. Gesampelt wurde entlang unterschiedlicher Miet- und Eigentumsverhältnisse, um die unterschiedlichen Auswirkungen von Aufwertungsprozessen thematisieren zu können: Verbessert sich beispielsweise aus der Perspektive eines Wohnungseigentümers das kulturelle Angebot und die Lebensqualität im Viertel und gewinnt die eigene Wohnung (auch damit und dadurch) an Wert, trifft eine Mieterin in erster Linie der steigende Druck auf ihre Wohnung, vor allem dann wenn das Mietverhältnis befristet ist. Mit jeder Neuvermietung steigt die Höhe der Miete, außerdem droht stets die Umwandlung in eine Eigentumswohnung, die für (Haus-)EigentümerInnen oft rentabler erscheint.

Wandlungsprozesse in Wien aus regulationstheoretischer Perspektive

Im Forschungsinteresse früher Regulationstheoretiker wie Michel Aglietta lagen vor allem die Wandlungsprozesse kapitalistischer Gesellschaften und deren Fähigkeit systemstabilisierende Institutionen und Normen hervorzubringen. Durch die Analyse von Krisen und Diskontinuitäten im kapitalistischen System traten Fragen nach den treibenden Kräften der Transformation, aber auch nach dem Widerspruch zwischen sozialen Beziehungen, makroökonomischen Strukturen und einer spezifisch ausgeformten institutionellen Landschaft mit Akkumulationsregimen in den Vordergrund. Mit dem Akkumulationssystem werden dabei in der Regel die Aufteilung von Löhnen und Profiten, die Organisation der Produktion und Reproduktion gefasst. (Vgl. Hübner 1990, S.140; Maier et al. 2006, S.126). Demgegenüber umfasst die Regulation soziale Normen und Institutionen. Aus dem Zusammenspiel von Akkumulation und Regulation werden spezifische Formationen abgeleitet. So herrscht weitgehende Einigkeit bei der fordistischen Formation, für deren Akkumulation Massenproduktion und Massenkonsum charakteristisch sind. Auf institutioneller Ebene steht ihr der Wohlfahrtsstaat als zentraler Akteur der Regulation gegenüber. Für den Fordismus ist außerdem die strikte Trennung von Lebens- und Arbeitswelt charakteristisch, die eine entsprechende Infrastruktur zur Überwindung der Distanz zwischen beiden Sphären benötigt. Die Trennung der Arbeits- und Wohnwelt geht in der Stadtentwicklung mit Prozessen der Suburbanisierung und der Errichtung von Trabantenstädten und monofunktionalen Wohnhausanlagen einher. Ziel ist nicht nur die Beschaffung von Wohnraum, sondern auch die Verankerung eines spezifischen Lebensstils, der sich nicht zuletzt aus der Partizipation am Massenkonsum herleitetet.
Krisenhafte Tendenzen einer fordistischen Formation sind ab den 1970er Jahren auszumachen. Innerhalb der Regulationstheorie herrscht weitgehend Einigkeit über den Wandel zu einer neuen Formation. Andreas Novy, Wirtschaftswissenschaftler an der WU Wien, hat auf Grundlage der Regulationstheorie für Wien verschiedene historische Formationen abgeleitet: Ab 1945 entsteht analog zu anderen westeuropäischen Staaten ein fordistisches Regime, das ökonomisch vor allem an der Binnennachfrage in Österreich orientiert ist und kaum internationale Verknüpfungen aufweist. Eine Ausnahme bilden die Wiener UNO-City und das OPEC-Headquarter, die Wien auch zum Standort bedeutender internationaler Organisationen machen, sowie die Tourismuswirtschaft.
Ein Bruch folgte Ende der 1980er Jahre mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem bevorstehenden EU-Beitritt Österreichs. Die Wiener Stadtpolitik versuchte in Folge Wien – analog zu anderen europäischen Städten – stärker als Unternehmen Stadt zu positionieren und internationale InvestorInnen anzulocken. (Vgl. Becker et al. 1999). Die Gemeinde Wien tritt zwar weiterhin als dominante Akteurin der Stadtentwicklung auf, gleichzeitig lässt sich jedoch eine Modifikation des hierarchisch geprägten Regierens der Stadt feststellen. Auf Verwaltungsebene werden zunehmend Paradigmen des New Public Managements[5] übernommen und städtische Unternehmen ausgegliedert. Andreas Novy differenziert hier jedoch im Vergleich zu neoliberalen Strategien anderer europäischer Städte und beschreibt die Wirtschaftspolitik Wiens als sozialliberal. Die AkteurInnen des fordistischen Akkumulationsregimes bleiben – wenngleich in neuen Rollen – teilweise erhalten. Als ManagerInnen von Fonds und anderen ausgelagerten Unternehmen spielen sie weiterhin eine maßgebliche Rolle in der Stadtentwicklung, gleichzeitig gibt der ökonomische Verwertungsdruck immer stärker Richtung und Form der Stadtentwicklung vor. (Novy 2002, S. 77–78)
In der Stadtentwicklung lässt sich in dieser Phase eine Zunahme beteiligter AkteurInnen feststellen. Auf Quartiersebene werden seit den 1980er Jahren nicht zuletzt im Rahmen der sanften Stadtentwicklung[6] und der Agenda 21 Partizipationsformen für BürgerInnen erprobt, gleichzeitig lässt sich in Form des Quartiermanagements auch hier eine Ökonomisierung von Stadtteilarbeit registrieren. Der Einfluss des privaten Sektors in der Stadtentwicklung wird auch durch eine steigende Bedeutung von Public Private Partnerships (PPPs) begleitet. Der kontinuierliche Wandel der Stadtpolitik und die steigende Bedeutung eines internationalen Standortwettbewerbs lässt sich an den gegenwärtigen Dynamiken im und um das Stuwerviertel gut ablesen.

Das Stuwerviertel: Vom Sumpfgebiet zum zentralen Wohnbezirk und Standort

Das Stuwerviertel ist zunächst vor allem ein diskursiver Begriff, dem keine klare räumliche Zuordnung gegenübersteht. Tatsächlich unterschieden sich die Angaben zu den Grenzen des Gebietes in den Interviews mit BewohnerInnen beträchtlich. Auch in der Fachliteratur werden unterschiedliche Grenzen gesetzt. Zwar existieren mit der Venediger Au, der Lassallestraße und der Ausstellungsstraße nach drei Seiten hin sehr markante Grenzen, eine Abgrenzung zum Donauraum hin kann jedoch nicht eindeutig vorgenommen werden. Häufig wird die nördliche Grenze des Stuwerviertels entlang der Vorgartenstraße gezogen, manchmal wird sie bis zur Donau verschoben. Tatsächlich lassen sich in Bebauung und Demographie starke Unterschiede im Stuwerviertel feststellen, ein Grund für die Wahrnehmung von zwei unterschiedlichen Teilräumen. Diese entsprechen ungefähr den beiden Zählbezirken[7] Ausstellungsstraße und Praterlände. Dominieren in Zentrumsnähe vor allem Gründerzeithäuser, wird der Bereich um den Handelskai vor allem von großen Wohnhausanlagen der Gemeinde Wien geprägt.
Das ehemalige Sumpfgebiet selbst wurde zusammen mit der heutigen Brigittenau[8] und dem Nordbahnhofviertel 1875 im Zuge der Donauregulierung erschlossen und zunächst zur Donaustadt zusammengefasst. Ursprünglich als neues Handelszentrum für den Donauhandel gedacht, wurde der Plan aufgrund des Börsenkraches von 1873 verworfen. Die Gegend wurde schlussendlich größtenteils von privaten Baufirmen entwickelt und der Streifen zwischen Vorgartenstraße und Engerthstraße auf Grundlage eines Generalregulierungsplanes 1893 per Gemeinderatsbeschluss als Industriegebiet gewidmet. (Georgeacopol-Winischhofer 1995, S.48–49) Im Gegensatz zur übrigen Leopoldstadt[9], die zu diesem Zeitpunkt bürgerlich geprägt ist, stellte die Donaustadt, trotz der Nähe zum Zentrum vor allem billigen Wohnraum zu Verfügung. Grund dafür ist die Nähe zu den beiden Kopfbahnhöfen – Nordbahnhof und Nordwestbahnhof –, die industrielle Betriebe anzogen. Durch die bis dahin schlechte infrastrukturelle Erschließung des Stadtgebietes ließen sich im Stuwerviertel zunächst vornehmlich ArbeiterInnen nieder, die auf Wohnraum in der Nähe großer Produktionsstandorte angewiesen waren. (Banik-Schweitzer 1982, S. 12f) In einer ersten Phase wurden im Stuwerviertel aufgrund der Nähe zu den beiden Kopfbahnhöfen vor allem Maschinenbaubetriebe errichtet, die wegen der immer dichteren Verbauung des Gebietes bald gezwungen waren, in die Randbezirke abzuwandern. (Laber 1990, S. 46) In Folge entwickelten sich vor allem die Elektro- sowie Lebensmittelindustrie zu den größten ArbeitgeberInnen in der neuen Donaustadt. Alleine die Firma Siemens & Halske beschäftigte 1902 bereits über 1.000 ArbeiterInnen in der Leopoldstadt (ebd., S. 48), die Wiener Molkereien, die im Herzen des Stuwerviertels produzierten, hatten in ihrer Blütezeit nahezu 600 MitarbeiterInnen. (Laber 1990, S. 50; Georgeacopol-Winischhofer 1995, S. 193)

Die zunehmende Erschließung der Leopoldstadt als Standort industrieller Produktion und Wohnort von ArbeiterInnen machte sie zu einem Bezirk mit sehr unterschiedlichen sozialen Dynamiken. Demographisch standen dabei Indikatoren bürgerlicher Innenstadtbezirke und proletarisch geprägter Vorstädte nebeneinander. Das Stuwerviertel selbst prägten vor allem ZuwanderInnen, die sich hier niederließen und in den umliegenden Fabriken arbeiteten. Bis zum Ersten Weltkrieg waren das vor allem EinwanderInnen aus Böhmen, Mähren, Galizien und Rumänien. Gleichzeitig etablierte sich das Stuwerviertel auch früh als Handelsumschlagplatz für Waren aller Art. Ausschlaggebend dafür war vor allem die Nähe zur Hafenanlage, zu den Bahnhöfen und den beiden Großkasernen (Albrechts- und Wilhelmskaserne). Der mobile Handel war für Menschen, die in den Fabriken keine Anstellung fanden, häufig überlebensnotwendig und spielte in der lokalen Ökonomie des Viertels bis in die 1980er Jahre eine Rolle. (Maderthaner & Zahradnik 1983, S. 88) Auch der nahe liegende Prater stellte für Handel und Dienstleistungen einen wichtigen Bezugspunkt dar.
Mit dem Beginn der NS-Herrschaft wurden Überlegungen für eine Neugestaltung der Stadt angestellt. Im Zentrum dieser Pläne stand dabei nicht zuletzt eine stärkere Anbindung der Stadt an die Donau, was vor allem für die Leopoldstadt weitreichende Folgen gehabt hätte. Die Projekte gerieten jedoch über eine Entwurfsphase nicht hinaus. (Vgl. Holzschuh 2011) Die Leopoldstadt, die in Wien Zentrum des jüdischen Lebens war, verlor während der NS-Herrschaft durch Ermordung und Vertreibung ihre jüdische Bevölkerung. Damit verbunden waren der Raub von Eigentumswohnungen und Häusern und die Vertreibung aus Mietwohnungen. Die Historikerkommission[10] geht von über 63.000 Wohnungen aus, die zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme in Wien von Jüdinnen und Juden und BewohnerInnen mit jüdischen Vorfahren bewohnt worden waren, was damit nahezu 9,6% des gesamten Wohnungsbestandes in Wien entsprach. (Bailer-Galandaet al. 2004, S. 110)[11] Nachdem im Zweiten Weltkrieg beide Bahnhöfe und zahlreiche Industrieanlagen schwer beschädigt worden waren, begann die Stadt Wien die dadurch entstandenen Brachen im Stuwerviertel zunehmend für den kommunalen Wohnbau zu nutzen. Diese Verbauung durch Wohnbauten begründet auch die starken baulichen und demographischen Unterschiede innerhalb des Viertels. Ähnlich wie die Gründerzeitbestände entlang des Gürtels[12] dient auch das Stuwerviertel in einem hohen Maße MigrantInnen, die sich ab den 1960er Jahren wieder zunehmend in Wien niederlassen, als Wohnraum, da der kommunale Wohnbau bis zum Jahr 2000 ausschließlich österreichischen StaatsbürgerInnen vorbehalten war. Während Migration eine Voraussetzung für die erfolgreiche Etablierung eines fordistischen Akkumulationsregimes in Österreich darstellte, wirkt(e) sich die Regulation – hier insbesondere der kommunale Wohnbau – vor allem positiv auf die Wohnqualität österreichischer StaatsbürgerInnen aus, während MigrantInnen in einem hohen Grad vom privaten Wohnungsmarkt abhängig blieben. Die demographischen Unterschiede der beiden Zählbezirke Ausstellungsstraße und Praterlände lassen sich vor allem durch die Wohnbautätigkeit der Gemeinde Wien nach dem Zweiten Weltkrieg erklären, die entlang der Donau zu einem Zuzug weitgehend österreichischer Haushalte führte, während der gründerzeitlich geprägte Teil des Stuwerviertels seine wichtige Funktion als Wohnraum für MigrantInnen beibehielt.
Der Abbau industrieller Betriebe im Stuwerviertel vollzog sich kontinuierlich, bis 1993 mit den Wiener Molkereien der letzte industrielle Großbetrieb die Gegend verließ. Die Deindustrialisierung lässt sich auch in den übrigen Gebieten der ehemaligen Donaustadt nachweisen. Während die Produktionsstätten der Industrie abgezogen oder stillgelegt wurden, blieben die Managementfunktionen einzelner Betriebe durchaus im Bezirk bestehen. (Laber 1990, S. 66–67)

Das Stuwerviertel wird problematisch und strategisch wichtig

In der Stadtplanung geriet das Stuwerviertel ab den 1980er Jahren zunehmend in den Blickpunkt. Ähnlich wie für die Gründerzeitbestände entlang des Gürtels wurde vor allem die schlechte bauliche Substanz und der hohe Bestand an Kategorie D-Wohnungen[13] in den Gründerzeithäusern problematisiert und man befürchtete Segregationstendenzen durch einen Abzug wohlhabenderer EinwohnerInnen an den Stadtrand. Zusätzlich wurde das Viertel in einer breiten Öffentlichkeit als Problemviertel wahrgenommen. Im Zentrum des medialen Diskurses standen sowohl der Schwarzmarkt um den Mexikoplatz (siehe Abb. rechts; vgl. Bratic 2001) als auch die Sexarbeit. In den im Rahmen meiner Untersuchung durchgeführten Interviews mit BewohnerInnen wird vor allem die Rolle der Medien für die stark negative Wahrnehmung des Viertels verantwortlich gemacht, die von den BewohnerInnen selbst nicht geteilt wird.
Na, für uns war’s billig, kamma sagen, und es war ogfuckt. Es gab Sexarbeit [...] und alle möglichen kleinen illegalen Geschäfte [...]. Aber für uns war’s ganz angenehm. Es wurde eher von den Leuten [...], die nicht aus dem Stuwerviertel sind [...] als sehr schmuddelig betrachtet. Das haben wir Anrainer, Bewohner selbst nicht ganz so gesehen. Wir haben da schon wahrgenommen, was passiert ist, aber es war gemütlich. (Interview Herr M 2013, Zeilen 28–32)

Strategisch ist das Viertel jedoch weniger wegen der befürchteten Segregationstendenzen für die Stadtplanung von Bedeutung, sondern weitaus stärker durch seine zentrale Lage. Das Stuwerviertel liegt auf einer Stadterweiterungsachse, die die Stadt infrastrukturell stärker an die Bezirke jenseits der Donau binden soll. Die Anbindung sollte dabei vor allem in Zusammenhang mit der Ausrichtung der für 1995 geplanten Weltausstellung vorangetrieben werden. Während die Bewerbung für die Weltausstellung schlussendlich aufgrund des Ergebnisses einer Volksbefragung zurückgezogen wurde, wird die Achse, die das alte Zentrum mit der neuen Donau-City verbinden soll, im Leitprogramm für donaunahe Entwicklungsgebiete inhaltlich auch nach der Expo-Absage weitergeführt. (Pirhofer & Stimmer 2007, S. 115) Die Industriebrachen der ehemaligen Donaustadt sind in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor allem mit größeren Wohnbauanlagen der Gemeinde gefüllt worden, ab den 1990er Jahren treten nun zunehmend private InvestorInnen als TrägerInnen der Stadtentwicklung in Erscheinung. Die Brachen des Nordbahnhofs und die Ränder des Praters ziehen neben Wohnbauprojekten vor allem tertiäre Nutzungen wie Bildungseinrichtungen und Headquarter an. In den großdimensionierten Büroblöcken, die an der Lassallestraße in den 1990er/2000er Jahren errichtet worden sind, beziehen zunächst OMV, IBM, Bank Austria und Telekom Austria ihre Unternehmenszentralen. (Vgl. Seiß 2006) Praterseitig werden mit dem neuen WU-Campus, der Neuerrichtung des Messegeländes (siehe Abb. S. 16) und der Neugestaltung des Pratervorplatzes vor allem Investitionen in Bildungseinrichtungen und touristische Nutzungen getätigt. Seit dem Beginn der Stadtentwicklungsprojekte Anfang der 1990er Jahre entstanden im und in unmittelbarer Nähe zum Stuwerviertel über 1.400 neue Hotelzimmer. Im Zuge der Fußball-EM 2008 wurde der Bahnhof am Praterstern um- und ausgebaut und der Platz selbst neu gestaltet. Infrastrukturell wird das Gebiet vor allem durch die U2-Verlängerung stark aufgewertet.
Vor allem zum Prater hin wird dabei entlang der neuen Paradigmen der Stadtplanung konzipiert. Die neue Wirtschaftsuniversität wird 2013 als Flagship-Campus realisiert, der nicht zuletzt wegen der Beteiligung zahlreicher StararchitektInnen auch eine touristische Vermarktung erfährt. (Wien Tourismus 2009; Brandl et al. 2013). Mit der Sigmund Freud Privat Universität wird eine zweite Hochschule auf das Areal am Rande des Praters übersiedeln. Zusätzlich wird in Form von freifinanzierten Studentenheimen und Appartementhäusern Wohnraum für die neuen NutzerInnen geschaffen. Die Projekte selbst werden dabei von privaten, mitunter auch staatsnahen Investoren, wie der IG Immobilien, einer Tochter der Österreichischen Nationalbank, realisiert und tragen durchaus den Renditeerwartungen ihrer EigentümerInnen Rechnung. Mit dem Viertel Zwei wurde und wird praterseitig ein Großprojekt als PPP realisiert. Das neue Wohn- und Büroviertel beherbergt unter anderem Büros internationaler Konzerne wie Sandoz, Unilever, Johnson & Johnson und Novartis. Mittlerweile wurden dank eines Vorkaufsrechts die Gründe gänzlich an einen privaten Investor abgetreten. Die starke Verbauung des Praters geht ebenfalls mit Umwidmungen einher. SexarbeiterInnen, die nach der Verdrängung aus dem Stuwerviertel in einer so genannten Erlaubniszone[14] im Prater arbeiteten, wurden durch die Umwidmung von Flächen in Wohngebiete quasi aus dem Zweiten Bezirk reguliert. Die BewohnerInnen des Viertels nehmen die Dynamiken der Aufwertungsprozesse differenziert wahr. In der Venediger Au und der Ausstellungsstraße, die sich auch baulich markant vom übrigen Viertel unterscheiden, wird ein Zuzug jüngerer BewohnerInnen registriert. Dies wird sowohl als Bruch als auch als Kontinuität erlebt, da beide Straßen auch in der Vergangenheit als bürgerlich wahrgenommen wurden:
Wenn ich [...] grad bei der Venediger Au immer vorbeigangen bin, da sind die teuren Autos gstanden. Da sind die Mercedes gstanden, die Audis. Und sonst im Stuwerviertel hast halt die Opel ghabt, Mazda, was auch immer. Die Mittelklasse sag ich mal. Und manchmal auch a halb verrostetes Auto. (Interview Herr Q 2013: Zeilen 571–574)
Als Unterschied wird in Interviews vor allem ein zunehmender Anteil an Eigentumswohnungen erlebt. Teilweise wird der Wechsel ganzer Hauspopulationen in Form von indirekten Verdrängungsprozessen beschrieben. Dieser wird aber eher als langsamer Prozess geschildert und nicht abrupt erlebt. Direkte Verdrängungen durch EigentümerInnen werden in den Interviews selten beschrieben. Als Hauptgrund dafür wird vor allem die Wirkung des Mietrechts angenommen. Auch innerhalb des Samples stellte der Umzug ins Stuwerviertel vor allem eine Verbesserung der eigenen Wohnsituation dar. Die baulichen Aufwertungen und Investitionen in die infrastrukturelle Erschließung des Viertels wecken vor allem bei BewohnerInnen mit befristeten Mietverträgen Befürchtungen, selbst verdrängt zu werden.
Naja, die Sorge kriegt man schon, in meinem Fall ist es ja auch so, ich hab einen befristeten Vertrag, meine Nachbarn auch. Das ist schon immer wieder ein Thema, was ist wenn dem jetzt einfällt, dass er das Haus renoviert und er könnte mehr Miete verlangen. Das ist schon immer unterschwellig da und das beschäftigt dann auch. Also nicht nur mich, sondern alle mit denen ich rede. (Interview Frau P 2013: Zeilen 235–239)
Gegenüber einer von BewohnerInnen als »erfolgreich« wahrgenommenen Aufwertung auf der Praterseite des Viertels, wird die Lassallestraße als fehlgeschlagene Aufwertung betrachtet, die gleichzeitig aber auch in letzter Konsequenz die teilweise Beibehaltung eines billigen Wohnsegments im Stuwerviertel nach sich zieht.
I glaub, es wird da der Zuzug aus beiden Richtungen weiter stattfinden, kommt mir so vor, auf der an Seite Leute, die mit der Aufwertung geholt werden sollen, auf der anderen Seitn die Leit, die immer scho ins Stuwerviertel zogen san, weil die Aufwertung net funktioniert, oder net ganz. (Interview Herr H 2013: Zeilen 124–128)

Fußnoten


  1. Siehe auch den Schwerpunkt zum Thema Aufwertung im Stuwerviertel in dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 36 (2009). ↩︎

  2. Grätzel mit Zukunft ist eine Initiative einiger Prater-UnternehmerInnen und des Bezirks Leopoldstadt mit dem Ziel für das Stuwerviertel ein positives Image zu kreieren. ↩︎

  3. Die Regulationstheorie stellt sich zur Aufgabe, Phasen der Stabilität inmitten der immanent krisenhaften Produktionsweise des Kapitalismus zu erklären. (http://de.wikipedia.org/wiki/Regulationstheorie (Stand 12.3.2015)) Dabei wird untersucht wie in unterschiedlichen Akkumulationsregimen, also spezifischen Varianten oder Ausformungen des kapitalistischen Systems wie bspw. dem Fordismus, Verteilung und Produktion organisiert und strukturiert werden. Die Regulationsweise bezeichnet »die Gesamtheit institutioneller Formen, Netze und expliziter oder impliziter Normen, die die Vereinbarkeit von Verhaltensweisen im Rahmen eines Akkumulationsregimes sichern […].« Alain Lipietz; http://poloek.arranca.de/wiki/analyse:regulationstheorie (Stand 12.3.2015). ↩︎

  4. Nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe von dérive hat der sozialdemokratische Wiener Bürgermeister Häupl bekannt gegeben, dass die Stadverwaltung wieder Gemeindewohnungen errichten wird. ↩︎

  5. New Public Management bezeichnet eine Neuformierung öffentlicher Verwaltungen im Sinne privatwirt-schaft-licher Managementmethoden und hat ihren Ursprung im Wirtschafts-liberalismus der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. ↩︎

  6. »Hintergrund der kommunalpolitischen Schwerpunktsetzung auf ›sanfte Stadterneuerung‹ war einerseits die Kritik an den monofunktionalen Stadtrandsiedlungen mit den negativen Konsequenzen der Suburbanisierung, andererseits ein verschärftes Bewusstsein über die Strukturmängel im dichtbebauten Stadtgebiet.« (Pirhofer & Stimmer, 2007, S. 86) ↩︎

  7. In der amtlichen österreichischen Statistik werden ein oder mehrere Zählsprengel zu Zählbezirken zusammengefasst. ↩︎

  8. Die Brigittenau ist der 20. Wiener Gemeindebezirk. ↩︎

  9. Die Leopoldstadt ist der 2. Wiener Gemeindebezirk. Bis zum Jahr 1900 umfasst dieser auch die heutige Brigittenau. ↩︎

  10. Die Österreichische Historikerkommission wurde 1997 per Ministerratsbeschluss mit dem Mandat betraut »den Vermögensentzug während der NS-Zeit, sowie Rückstellungen und Entschädigungen der Republik Österreich« zu erforschen. ↩︎

  11. Genaue Zahlen für die Leopoldstadt oder das Stuwerviertel liegen leider nicht vor. ↩︎

  12. Der Gürtel, eigentlich Gürtelstraße, ist einer von drei Stadtringen in Wien. ↩︎

  13. Kategorie D ist eine von vier Ausstattungskategorien und bezeichnet Wohnungen ohne eigenes WC und Wasser-entnahmestelle. ↩︎

  14. Mit dem neuen Wiener Prostitutionsgesetz wird seit 2011 der Versuch unternommen Straßenprostitution stärker zu regulieren. Straßenprostitution ist nun nur mehr in Gebieten, die im Flächenwidmungsplan nicht als »Wohngebiet«, »gemischtes Baugebiet«, »Kleingartengebiet« oder »Gartensiedlungsgebiet« ausgewiesen sind, möglich. Per Verordnung wurden in Form von Erlaubniszonen Ausnahmen vom Verbot der Straßenprostitution geschaffen. ↩︎


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Literaturliste

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