» Texte / Pest, Residenzpflicht, Vereinzelung und Aufstand

Christoph Schäfer

Christoph Schäfer ist Künstler in Hamburg.

Barbara Holub

Barbara Holub ist Künstlerin und Mitglied von transparadiso, einer Platform für Architektur, Urbanismus und Kunst.

Paul Rajakovics

Paul Rajakovics ist Urbanist, lebt und arbeitet in Wien.


Oft hatten wir schon daran gedacht, Christoph Schäfer anzufragen, ein Kunstinsert für dérive zu gestalten. Die inhaltliche Nähe von dérive zu seiner Arbeit ist evident. Mehrfach sind Christoph Schäfer und Margit Czenki auf Einladung von dérive nach Wien gekommen oder waren an gemeinsamen Projekten mit dérive beteiligt (z. B. wurde das Projekt PlanBude 2015 auf dem urbanize-Festival in Wien ausgestellt und das urbanize-Festival 2016 unter dem Motto Stadt der Vielen in Hamburg gemeinsam mit Christoph Schäfer, Margit Czenki und Renée Tribble konzipiert und organisiert). Neben den über Wunschproduktion evozierten bekannten urbanen Projekten wie Park Fiction und PlanBude in Hamburg arbeitet Christoph Schäfer nach wie vor immer wieder über die Zeichnung. 2010 ist ein umfangreicher Band mit über 158 Zeichnungen und Texten, Die Stadt ist unsere Fabrik, der Fragen des urbanen Handelns, Prozesse in St. Pauli oder auch Fragen der Stadt und ihrer Aneignung behandelt, erschienen. Für das Insert hat Christoph Schäfer vier jüngere Zeichnungen zu den Themen der Praxis der Urban Citizenship und Recht auf Stadt ausgewählt. Für die deutschsprachige Veröffentlichung (2015) von Henri Lefebvres gleichnamigem Buch hat Christoph Schäfer das Vorwort verfasst. Bei den ausgewählten Zeichnungen steigt Christoph Schäfer direkt in die europäische Siedlungsgeschichte ein. Er schreibt dazu:
        »Die Zeichnungen setzen diese alternative Einbürgerungspraxis in Bezug zur ursprünglichen Freiheit der Städte, die um das Jahr 1000 herum all jenen geflüchteten Leibeigenen Freiheit und Bürgerrechte verliehen, denen es gelungen war, sich über ›ein Jahr und einen Tag‹ in der Stadt zu halten. Diesen Freiheitssog der Stadt beantworteten die Lehnsherren mit der Einführung einer ›Residenzpflicht‹ – ganz ähnlich der Maßnahme, mit der heutige Geflüchtete in vielen Ländern vom Umzug in die Städte abgehalten werden. Nach den Pestwellen und der Entvölkerung des Landes verschärften die Herrschenden diese Restriktionen. Es kam zu einer Ausdehnung der Leibeigenschaft zu Beginn der Neuzeit und schließlich zur Explosion, zum Aufstand.
        Die jüngste Revolutionswelle (Occupy Gezi, arabischer Frühling, Gelbwesten) basierte vor allem darauf, dass sich echte Körper im städtischen Raum versammeln und austauschen. Denn nur so können Solidarität und gesellschaftliche Innovation neu erfunden werden. Auch bei den meisten meiner Projekte der letzten Jahre ging es darum, Orte der Begegnung und neue Formen der kollektiven Kooperation und Wunschproduktion zu entwickeln. Der derzeitige Einschnitt durch die Corona-Pandemie scheint zwar zunächst die Kultur der Vereinzelung zu fördern. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das letzte Wort in der Sache möglicherweise noch nicht gesprochen wurde.«


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