Robert Temel

Robert Temel ist Architektur- und Stadtforscher in Wien.


»Wenn wir hören, daß in einer Stadt durchschnittlich 6 bis 14 Kinder auf eine Familie entfallen, dann ist es nicht wahrscheinlich, daß in dieser Stadt ein erheblicher Teil der Bevölkerung Stahlrohrmöbel verwendet.« – So schreibt Otto Neurath 1930 in der Zeitschrift Die Form über das Programm der geplanten Kölner Ausstellung des Werkbunds Die Neue Zeit und stellt der seiner Ansicht nach metaphysisch-einheitsorientierten Ausstellungskonzeption einen Zugang gegenüber, der auf Diversität, Widersprüchlichkeit und Wissenschaftlichkeit basiert. Die Kölner Ausstellung sollte schließlich nicht zustande kommen; wohl aber ihr Wiener Pendant mit der Werkbundsiedlung von 1932, an der ebenfalls Neurath mitwirkte. »Die optimale technische Lösung deckt sich keineswegs immer mit dem Glücksmaximum«, formuliert er auf die Kritik hin, dass die Wiener Ausstellung wenig systematisch sei. Ganz im Unterschied zu den Idealwohnungen vieler Wohnausstellungen der frühen Moderne dachte die Wiener Werkbundsiedlung die aktive Beteiligung der BewohnerInnen bei der Gestaltung, vor allem der Möblierung ihrer Häuser mit, entsprechend dem Konzept des Ausstellungsleiters Josef Frank.
Das Beispiel stammt aus Andreas Nierhaus’ Beitrag zum Sammelband Wohnen Zeigen über Repräsentationen, Politiken, Erzählungen des Wohnens in der modernen Kultur, von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart. Der Band basiert auf der Tagung »Wie Wohnen? Beziehungen zwischen Wohnmodellen, Vorbildern und BewohnerInnen«, die 2012 im Wien Museum stattfand. Als innerfamiliäre Koproduktion wurde dieser aktuelle erste Band der wohnen +/– ausstellen Schriftenreihe des Mariann Steegmann Instituts. Kunst und Gender an der Universität Bremen herausgegeben: Andreas Nierhaus, Architekturkurator am Wien Museum, organisierte 2012 eine Ausstellung über die Wiener Werkbundsiedlung; Irene Nierhaus, Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie in Bremen, leitet das Forschungsfeld wohnen +/– ausstellen. Der Band widmet sich dem Schauplatz Wohnen als dem umkämpften Ort, an dem das Subjekt und seine Subjektivierungsprozesse verhandelt werden. Die AkteurInnen dieses Kampfes transportieren Modelle, in denen Räume und BewohnerInnen angeordnet werden, mithilfe verschiedenster Medien: Architektur, Design und Innenausstattung, natürlich; vor allem aber Ausstellungen, Bilder, Filme, Zeitschriften, Zeitungen, Werbung, TV-Formate, Websites, Kunst und Literatur etc. Wohnen Zeigen ist ein zentraler Topos der visuellen Kultur, der direkt mit den Praktiken des Wohnens und des Wohnbaus verknüpft ist. Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert: Modellräume befasst sich mit Medien der Wohnerziehung, von Wohn- und Bauausstellungen über Filme bis zur Wohnbedürfnisforschung. Wohnkulturen behandelt Erzählungen des Wohnens vor allem in Bild- und Textmedien, die mehr oder weniger hegemoniale Vorstellungen in die Alltäglichkeit des Wohnens transportieren. Und Bewohnermodelle beschreibt die Modellierung von WohnakteurInnen zwischen Ideal und Faktizität.
Die zitierte Wiener Werkbundsiedlung mit ihrem Spannungsverhältnis zwischen modellhaftem, fiktivem Charakter der Wohnausstellung 1932 und darauf folgender faktischer Bewohnung steht gleichsam für den Doppelcharakter des Wohnen Zeigens insgesamt: Jeder neue Wohnraum startet mit einer Fiktion, einer Vorstellung seiner Nutzung und seiner BewohnerInnen, bevor er faktisch angeeignet und bewohnt wird; und jede Bewohnerin, jeder Bewohner hat als imaginäre VorgängerInnen jene Bilder fiktiver BewohnerInnen, die die ArchitektInnen beim Entwerfen ihres Wohngebäudes leiten. Diese Vorstellungen sind häufig implizit, auf persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen beruhend.
Ein Setting aus dem ersten Abschnitt des Bandes, in dem versucht wurde, sie zu objektivieren, ist das Schweden der 1930er bis 1950er Jahre. David Kuchenbuch beschreibt die Entwicklung, wie in der architektonischen Moderne die Menschen, die BewohnerInnen werden sollten, vorrangig über Bedürfnisse wahrgenommen wurden. Ernst May formulierte 1930, man müsse die Bedürfnisse gerade der Ärmsten ermitteln, indem man »im Geiste die Entrechteten« befrage, und selbst Ernst Neufert veröffentlichte 1942 eine Studie unter dem Titel Der Mieter hat das Wort, in der er ein konkretes Einleben der ArchitektInnen in den Alltag der Menschen forderte. Dabei misstrauten PlanerInnen den konkreten Individuen und ihrer Fähigkeit, ihre Wünsche eigenständig zu formulieren – somit entstand eine Kultur der Wohnbedürfnisforschung, die auf Fragebögen, Interviews und teilweise auch Beobachtung basierte. Die PlanerInnen suchten das Gespräch nicht mit realen Menschen, sondern mit künftigen IdealbewohnerInnen, die mithilfe der Daten der Surveys erschaffen wurden. Die scheinbar objektiven wissenschaftlichen Instrumente trugen Normalitätsvorstellungen und Normierungen in die Forschung und damit indirekt in den Wohnbau und in die Wohnpraxis.
Der Band führt 16 Beiträge zum Wohnen Zeigen zusammen: Im Mittelpunkt von Irene Nierhaus’ Artikel über Kommentare zum Neuen Bauen der 1930er Jahre steht Bert Brechts Text »›Nordseekrabben‹ oder Die moderne Bauhauswohnung«, in dem der Protagonist Müller die aufwändig und geschmackvoll eingerichtete Bauhauswohnung beschmutzt, fast zerstört: »Ja, man wohnt wie ein Schwein, furchtbar unüberlegt« – er widersetzt sich der Ein_Richtung im Eigenheim. Christiane Keim analysiert das Fotobuch über Alison und Peter Smithsons Upper Lawn Pavilion, ein der Demonstration des Wohnens gewidmetes Künstlerhaus; das Buch diente den ArchitektInnen, ebenso wie die das Wohnhaus vorwegnehmende Ausstellung Patio and Pavilion, zur Vermittlung der eigenen Idealvorstellung des Wohnens. Bernadette Fülscher analysiert Georges Perecs Roman Das Leben Gebrauchsanweisung als Vorbild für eine unhierarchische, die Vielfalt betonende Betrachtung von Wohn- und Lebensformen. Und Christina Threuter befasst sich mit Herlinde Koelbls Fotobuch Das deutsche Wohnzimmer. Sie analysiert die Fotos und begleitenden Bildunterschriften dieses Bandes als eine Behauptung immer wiederholend: dass die gezeigten Interieurs nichts Individuelles seien, sondern Ausdruck der sozialen Rolle der jeweiligen Individuen, die dem strukturierenden Wirken ihres Habitus voll erliegen.
Diese und viele andere Beiträge des Bandes machen deutlich, wie das Wohnen Zeigen ein Wohnwissen herstellt, das wiederum Wohnräume und deren Bewohnung bestimmt: »Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird.«


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