Susanne Karr


Die Stadt als Labor für gesellschaftliche Entwicklungen ist ein bekanntes Modell. Die präzisere Analyse von Stadtbestandteilen gewinnt an Aufmerksamkeit: Verschiedene Techniken der Stadtbewältigung werden im Bändchen Urbanes Lernen verhandelt. Es geht um Bildung und Intervention im öffentlichen Raum, so der Untertitel der Veröffentlichung der Akademie der Bildenden Künste Wien. Aufgezeichnet und wiedergegeben sind darin künstlerische und wissenschaftlich-urbanistische Forschungsprojekte.
Bereits die Titel der Beiträge zeigen die Vielschichtigkeit urbanistischer Interventionen. Marion Thuswald, die das Buch auch herausgegeben hat, beschäftigt sich in ihrem Text mit den Kompetenzen von Bettel-PendlerInnen und deren Erfahrungen in Wien. Ihre Analyse wirft ein kaltes Licht auf die Stadtkultur. Ihr Schluss: »Mögen uns die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr stören als die BettlerInnen.«
Um die Stadt als gewordene und sich ständig verändernde Umwelt, ihre bekannten oder erst aufzuspürenden Aspekte geht es im Beitrag von Katharina Morawek und Thomash Schoiswohl: »Grabe, wo Du stehst!«, so die pragmatische Ansage. Dabei dient das Modell des britischen History Workshop als Vorbild. Die »Geschichtsbaustelle«, in den 1960er-Jahren zeitgleich mit der Friedensbewegung und der Hausbesetzerszene entstanden, macht es sich zur Aufgabe, den eigenen Stadtteil zu erforschen, und zwar gerade unter dem Aspekt der Arbeitsverhältnisse, Lebenswelten und deren Veränderungen. Gentrification ist in diesem Zusammenhang ein wiederkehrendes Thema, egal, um welche Stadt es sich handeln mag.
Beispiele zur Zwiespältigkeit der Stadtteil-Aufwertung aus Zürich, Basel und Hamburg werden von Carmen Mörsch skizziert. Auch die Thematisierung und gleichzeitige Wieder-Einspeisung des Protests in die mediale Schleife wird beschrieben: Für die 6. Berlin-Biennale wurde ein leerstehendes Kaufhaus in Kreuzberg zum Ausstellungsort umfunktioniert. Dieses Kaufhaus, schon lange Objekt der Begierde von ImmobilieninvestorInnen, wurde als Reaktion darauf von AktivistInnen mit Informationen bestückt: Porträts, Handynummern und E-Mail-Adressen von Biennale-KuratorInnen wurden auf Plakate gedruckt und jeweils als »Gentrifizierer/in« beschimpft. Diese Art der Kritik wurde daraufhin von den Kuratorinnen öffentlich begrüßt und die Aktion wurde ins Biennale-Geschehen integriert. Thema der Ausstellung in Kreuzberg, die unter gehöriger Polizeipräsenz eröffnet wurde: »Demonstrationen gegen Unterdrückung in aller Welt«.
Unterdrückt wird häufig auch anti-sexistische Aufklärungsarbeit, wie Erika Doucette und Marty Huber in ihrem Projekt Forget Sexism! darlegen. Es geht dabei um Fragen nach dem Verlernen sexistischer Erbmasse, also internalisierter Vorurteile und Rollenzuschreibungen, auch im Hinblick auf Erkenntnisse aus der queer-Forschung. Das Fernsehprogramm wird auf die Verankerung von Geschlechterstereotypen im frühen Kindes-alter untersucht. Für einen anderen, unverstellteren Blick auf die Umgebung – in topographischer und sozialer Hinsicht – macht sich auch Elke Krasny mit ihren Stadtspaziergängen jenseits touristischer Routen stark. In ihrem Stadt und Frauen-Projekt hatte sie begonnen, Frauen auf ihren alltäglichen Wegen in der Stadt und am Stadtrand zu begleiten. Mit ihrer Methode, die Stadt gehend zu erkunden, Wege nachzuvollziehen und Fragen zur Bedeutung des Gehens zu stellen, gelingt es ihr, ganz andere Aspekte als die üblichen, auf den ersten Blick hin sichtbaren, zu entdecken. Relevant für die Stadtforschung ist dabei, dass aus genau diesen kleinen, oft übergangenen und kaum wahrgenommenen Elementen die ganze Erfahrungswelt zusammengesetzt ist. Daher lohnt es sich, auch die Geschwindigkeit auf ein körperspezifisches Niveau zu bringen – nicht unterirdisch oder oberirdisch durchzurasen – also zu gehen oder zu laufen, und die solcherart wahrgenommene Stadt näher zu betrachten.
Das Gehen ordnet. »Beim Gehen wird der Kopf leer.« sagt die Molekularbiologin Renée Schroeder. »Gehen dient der urbanistischen Wissensproduktion«, so Krasny. Es stellt eine kulturelle Bildungspraxis dar. Dabei geht es nicht um reines Sichtbarmachen. Auch im Text Kein Opfer, der sich auf den Film Natasha von Ulli Gladik bezieht, wird Sichtbarkeit nicht mit automatischer Veränderung gekoppelt. Es geht um die Perspektive der Darstellung, in diesem Fall eines Roma-Mädchens, das vielerlei Vorurteilen ausgesetzt ist. In diesem Film erfährt das klassische Stadtthema Arbeit einen Bedeutungszuwachs: Natashas Broterwerb, das Betteln, wird als Arbeit gezeigt. Der Text gibt die Diskussion zum Film wieder. Die bei Hilfsorganisationen übliche Praxis des Mitleid-Heischens wird klar als Verstärkung des Opferstatus gesehen. Die Hinterfragung vom Umgang mit Bildern und eine reflexive Praxis des Sehens wird gefordert.

Weitere Beiträge stammen von Ulrich Deinet, Lottie Child, Tina Leisch, Radisa Barbul, Susita Fink, Maya Malle, Elisabeth Anna Koger, Lisbeth Kovacic, Ria Hartley, Marissa Lôbo, Claudia Ehgartner, Renate Höllwart und Roland Schanner.


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