Ernst Gruber

Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner.


Es liest sich zuweilen wie ein Drama, wie die Architektin Andrea Jany das steirische Experiment Wohnbau der 1970er- bis zu den frühen 1990er-Jahren in ihrem gleichnamigen Buch nacherzählt. Die Bühne bietet dabei das Modell Steiermark: Als Ergebnis einer avantgardistischen Kulturpolitik wird es ab den 1950ern entwickelt und schließlich 1972 durch einen Think-Tank der steirischen ÖVP aus der Taufe gehoben. Wien durfte zur Schärfung als Nemesis herhalten. Unter Beteiligung von KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und der steirischen ÖVP wurde es als Teil der steirischen Identität geschaffen, entsprechend einem Konzept von »Einheit in der Vielfalt« in Ergänzung zu Landesbewusstsein und Föderalismus.
       Der stille Held dieses Dramas sind die Architekten der Grazer Schule, die »Möglichkeiten aufzeigen sollten, gegenwärtige Themen in Gebäude und Strukturen umzusetzen« (und ja, es sind – so wie nahezu alle damals beteiligten Protagonisten – Männer). Sie tun dies in 28 Projekten, die allesamt als Entwicklung aus zwei Kernprojekten vorgestellt werden: der Terrassenhaussiedlung und der Eschensiedlung Deutschlandsberg. Anhand dieser 28 Modellvorhaben lässt sich über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren die Genese dieses ambitionierten Modells nachverfolgen: von wohnbaupolitischen Regelwerken, die auch den globalen Kontext nicht scheuen, bis hin zum architektonischen Entwurf, der die Menschen als Individuen einbeziehen soll.
       Im Zentrum der architektonischen Auseinandersetzung steht der Versuch, den Konflikt zwischen sozialem Massenwohnbau und dem Einfamilienhaus zu lösen. Die Wohnung sollte gegenüber dem ernüchternden Geschoßwohnbau zu einem Ort der Individualität werden. Planungspartizipation spielte dabei stets eine wesentliche Rolle, um die gewünschte Identifikation mit dem gebauten Ort zu ermöglichen.
       Die Grazer Schule, die internationale Bekanntheit erlangte, wird vom stillen zum tragischen Helden in diesem Drama: Sie bahnt sich aus den Zeichensälen der TH Graz ihren Weg vom Ideenlabor über eine politische Diskurswerkstatt, die, wie am Beispiel der Trassenführung der Pyhrnautobahn anschaulich wird, auch unmittelbare Auswirkungen auf die politischen Realitäten ausüben konnte. Der Weg führte bis hin zu internationaler Anerkennung, die Politik war ihr Wegbereiter und der Politik fiel sie Anfang der 1990er-Jahre auch zum Opfer. Mit dem Satz »Die Grazer Schule hat jetzt Ferien« wird das Ende des Modells Steiermark eingeläutet. Der Satz ist keine groteske Erfindung, er stammt vom 1991 neu eingesetzten Landesrat für Wohnbau und spiegelt die reaktionär-provinzielle Denkhaltung gegenüber einem international beachteten Qualitätsanspruch im sozialen Wohnbau generell und zu Intellektualismus und Experimentierfreude als Grundhaltung wider, die sich bis heute wiederfindet.
       Der soziologisch-empirische Teil des Buchs, quasi der Nachruf auf das Modell Steiermark, besteht aus Befragungsergebnissen ausgewählter Wohnanlagen und besticht unter anderem durch die Erkenntnis, der partizipative Wohnbau sei in der Lage, eine stärkere »soziale Einbindung in der Nachbarschaft« zu erzeugen. Hier würde man sich eine tiefer gehende Auseinandersetzung wünschen, beispielsweise als Erläuterung, was genau damit gemeint ist und welche architektonischen Elemente und Aussagen hier konkret zum Tragen kommen. Ob die Planungspartizipation der Schlüssel zur Wohnzufriedenheit ist, bleibt offen. Dazu sind die Motive der BewohnerInnen für die Wahl der beforschten Wohnungen zu wenig beleuchtet. Grundsätzlich wären als Alternative zur gewählten Fragebogenmethode als Grundlagen für die Erkenntnisse vielleicht qualitative Interviews mit BewohnerInnen besser in der Lage gewesen, die Nuancen dieser gebauten Antithesen zur Anonymität zu belegen.
       So deutlich und nahe an den Geschehnissen die Beschreibung der Hintergründe und der einzelnen Projekte in textlicher Form ist, so sehr wünscht man sich beim Lesen mitunter diesen Einblick auch durch mehr architektonische Darstellungen wie Pläne oder Schnitte untermauert sehen zu können. Anhand der Terrassenhaussiedlung stellt sich zudem die Frage nach der Diskrepanz zwischen der geringen Nutzung kommunikationsfreundlicher Angebote und der konkreten Umsetzung.
       Legitimiert durch eine breite Einbeziehung vieler AkteurInnen steht das Modell Steiermark Pate für einen stark identitätsbildenden Gegenentwurf zu einem paternalistischen Ansatz, wie ihn die Nemesis Wien traditionell verfolgt. Vielleicht liegt auch hier einer der Gründe dafür, warum sich aus dem steirischen Modell eine derart tiefe und selbstbewusste Verwurzelung entwickeln konnte. Bis heute kann man damals beteiligte Architekten sagen hören »Wir haben den partizipativen Wohnbau damals in der Steiermark erfunden«. Wer würde sich heute schon als Teil eines Wir empfinden, wenn es um Entwicklungen in Baukultur und Wohnbaupolitik geht?


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