Iver Ohm


Zugegeben, an einem lauen Frühlingsabend mit einem kühlen Bier auf dem Geländer der Oberbaumbrücke zu sitzen und den Sonnenuntergang im Himmel über Berlin zu genießen, bevor man durch die umliegenden Techno-Clubs zieht, ist ein wirklich schöner Moment. Irgendwie seltsam historisch, entrückt und aufgeladen mit freudiger Erwartung auf das nächtliche Abenteuer zugleich. Markiert dieser Ort doch wie kaum ein anderer den derzeitigen urbanen Stand der Dinge in Europas hippster Party- und Kreativmetropole. War er vor 1989 noch Sperrgebiet, Todesstreifen und Niemandsland als Grenze zwischen Ost und West, so ist er heute, 25 Jahre später, zu einem absoluten Hotspot für TouristInnen und PartygängerInnen aus der ganzen Welt geworden. Die Letztgenannten lassen – als Ergänzung zu den PauschalstadttouristInnen – nach erwähntem Sonnenuntergangs-Bier in den umliegenden Zwischenzonen der ehemaligen Grenzgebiete ihrer Vergnügungssucht freien Lauf und damit auch kräftig Moos in Berlins leeren Kassen klingeln.
Der Umstand, dass Berlin weltweit als super-sexy und mega-hip angesehen wird und gleichzeitig in Bezug auf den Lebensunterhalt noch immer verhältnismäßig günstig ist, bedeutet für die Stadt scheinbar die finanzielle Rettung in letzter Sekunde. Bei rund 25 Millionen Übernachtungen pro Jahr und einer jährlichen Tourismuswachstumsrate von 7-11 Prozent erfährt Berlin in den letzten Jahren einen der stärksten Metropolen-Tourismusbooms weltweit. Allein zu Silvester kommen geschätzte zwei Millionen Feiergäste in die Stadt. Darüber hinaus ziehen viele junge KulturakteurInnen und KreativindustriearbeiterInnen gleich ganz hierher. Frei nach dem Motto »Lieber arm sein und Spaß haben als arm und lustlos obendrein sein« feiern die modernen, meist prekär lebenden BerlinerInnen sich und ihren Lebenswandel durch Champagner, Bier und Koks gleich mit. Dass dieser Umstand über die Jahre nicht nur problematische Auswirkungen hat – Gentrifizierung, Verdrängung und Segregation von EinwohnerInnen durch Besserverdienende und Kapitalanlagen von InvestorInnen –, sondern auch eine enorme kulturelle Diversität mit sich bringt, ist längst allen klar.
Nur: Was tun, wenn dieser daher gerollte Umstand eines Tourismus- und Kreativ-Aktiven-Booms gleichzeitig zu mehr Prekarisierung und weniger kalkulierbarer Stabilität führt? Was, wenn die derzeit boomende Kreativbranche genauso schnell, wie sie eingezogen ist, wieder weg sein könnte? Plötzlich irgendwo eine neue must-live-Blase aufgeht und die Karawane weiterzieht? Oder, viel schlimmer: allen kreativen PionierInnen irgendwann die Ideen, Jobs und Netzwerke ausgehen? Nun, ein Support-Konzept muss her: In diesem Fall die kreative Stadt, auf deren Website (http://www.creative-city-berlin.de") zu lesen ist:
»Creative City Berlin ist ein Projekt von Kulturprojekte Berlin GmbH und wird getragen von der Berliner Kulturverwaltung gemeinsam mit der Wirtschaftsverwaltung (Projekt Zukunft)«. Ich sage da nur: »Prost, aufs Geratewohl immer die halbleeren Tassen hoch!«
Szenenwechsel: Anfang Februar veranstaltet die oben genannte Kulturprojekte Berlin GmbH mit Hilfe der Kulturstiftung des Bundes im Haus der Kulturen der Welt, einem zeitgeschichtlich aufgeladenen und äußerst repräsentativen Gebäude vis à vis vom deutschen Kanzleramt, die international bekannte transmediale. Diese ist nach eigener Aussage ein »Festival und ganzjähriges Projekt in Berlin, das neue Verbindungen zwischen Kunst, Kultur und Technologie herausstellt«, wobei die »Aktivitäten der transmediale darauf ab[zielen], ein kritisches Verständnis der gegenwärtigen, von Medientechnologien geprägten Kultur und Politik zu festigen.« Dieser »umfassende kulturelle Ansatz des Festivals wurde auch von der Bundesregierung anerkannt, die die transmediale als Leuchtturmprojekt der Gegenwartskultur unterstützt«.
In diesem Jahr lautete das Motto des Festivals »afterglow« (die Abendröte/das Nachglimmen) und sollte den »current status of post-digital culture« thematisieren. Die VeranstalterInnen sahen sich in der global-kapitalisierten Welt um und stellten fest, dass »digital technologies are now deeply embedded in the geophysical and geopolitical [reality]« und »the digital world seems to turn from treasure into trash«. Eine weise Beobachtung. Leider ist dahingehend von einer (eventuell) notwendigen Reaktion und neuen Aufbruchstimmung auf der trans-mediale nur wenig zu spüren. Nach anfänglicher Euphorie über aktivistische Tendenzen und offensichtlich kritische Positionen im Programm wird schnell klar, dass es auch hier in erster Linie um eine gut gespielte Show geht.
Die Inhalte des Medien-, Kunst- und Technologiefestivals drehen sich erwartungsgemäß meist um das Internet, (technische) Infrastrukturen, Hacktivism und verschiedene Sparten der Medienkunst. Im Rampenlicht stehen dabei – ähnlich wie in den Abendnachrichten – die Aktivitäten von politisch motivierten Whistleblowern (Edward Snowden), Transparenz-Strategien von Informationsplattformen wie Wikileaks und etwas allgemeiner die Frage nach individuellen Zugangsmöglichkeiten versus Sicherheit im (post-)digitalen Zeitalter. Die interessanteren, kleinen Projekte wie Anonymonth aus den USA genießen weit weniger Aufmerksamkeit und müssen ihre Fahrtkosten selbst berappen, um teilnehmen zu können. Medienwirksame Personen wie Jacob Appelbaum und Laura Poitras werden hingegen unter dem Titel »Art as Evidence« in fast Ehrfurcht einflößender Art und Weise vor knapp tausend ZuhörerInnen als globale HeldInnen inszeniert, haben aber leider nur wenig Neues zu erzählen. Der Leuchtturm muss eben immer leuchten, sonst wäre er kein richtiger Leuchtturm mehr.
Erneuter Szenenwechsel, zwei Wochen später: Bei einem ebenfalls von der Kulturprojekte Berlin GmbH veranstalteten Podiumsdiskussion mit dem Titel: »ALLES BERLIN?! – Braucht die Stadtentwicklung künstlerisch-partizipative Perspektiven?« im Rahmen des Wilden Palais im Podewil, der Kulturprojekte-Zentrale, sitzen KünstlerInnen, Schüler, eine Stadtplanerin und der Berliner Senator für Stadtentwicklung recht friedlich auf der Bühne und loben gemeinsam die gute und sinnvolle, weil innovative Arbeit von KünstlerInnen und SchülerInnen im Rahmen des Stadtforums 2030. Kaum ein kritisches Wort. Nur anschließend, draußen vor der Tür, sagt einer der Beteiligten: »Schade, dass sie das Publikum nicht gefragt haben, da hätten bestimmt einige gesagt, was sie denken, denn Berlin wird gerade großräumig verschachert ...«
Da frage ich mich, ob die InitiatorInnen dieser vieldimensionalen Relations-Paradoxien irgendwann nach einem Berliner Sonnenaufgang mit einem gehörigen Kapitalismus-Kater aufwachen und darüber nachdenken, warum sie zum 100sten Male so einen widersprüchlichen Mist gebaut haben. Hier macht es sich die transmediale traumhaft einfach und fragt sich nur: »How do you feel today?«


transmediale 2014 — afterglow
29. Januar bis 2. Februar 2014
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
http://www.transmediale.de


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